Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
Khayyams ist nicht der Überdruß eines Menschen, der nicht recht weiß, was tun, da er in der Tat nichts tun kann oder zu tun versteht. Dies ist der Überdruß von Totgeborenen, die sich verständlicherweise Morphium und Kokain zuwenden. Der Überdruß des persischen Weisen ist tiefgründiger und edler. Es ist der Überdruß von jemandem, der klar dachte und sah, daß alles dunkel war; der alle Religionen und alle Philosophien überdachte und dann wie Salomon sprach: »Und ich sah, daß alles Eitelkeit und Anfechtung des Geistes war …«, oder mit den Worten eines anderen Herrschers, Kaiser Septimius Severus, als er der Macht und der Welt Lebewohl sagte: »Omnia fui, nihil …« – »Ich bin alles gewesen; nichts lohnt die Mühe.«
Das Leben, sagte Tarde [68] , ist die Suche nach dem Unmöglichen vermittels des Unnützen; dies hätte auch Omar Khayyam gesagt, wenn er es denn gesagt hätte.
Daher beharrt der Perser auf dem Genuß von Wein. Trink! Trink! lautet seine ganze praktische Philosophie. Es trinkt nicht die Freude, die trinkt, um noch freudiger zu werden, noch mehr sie selbst. Es trinkt nicht die Verzweiflung, die trinkt, um zu vergessen, um weniger sie selbst zu sein. Die Freude würzt den Wein mit Tatendrang und Liebe, und bei Khayyam ist nichts zu finden, was auf Energie hinwiese oder gar von Liebe spräche. Jene Saki, deren grazile Gestalt in den Rubayat (überaus selten!) aufscheint, ist nur »das Mädchen, das den Wein kredenzt«. Der Dichter schätzt ihre schlanke Erscheinung, wie er die schlanke Amphore mit dem Wein schätzt.
Die Freude spricht vom Wein wie Dekan Aldrich [69] :
Die Leute haben nach meinem Dünken
Fünf Gründe, um zu trinken:
Einen Trinkspruch, einen Freund, oder einen
Trockenen Mund, was auch immer es sei,
Diesen oder jeden Grund.
Die praktische Philosophie Khayyams beläuft sich mithin auf ein sanftes Epikureertum, in dem nur noch vage der Wunsch nach Vergnügen durchscheint. Es genügt ihm, Rosen zu betrachten und Wein zu trinken. Eine leichte Brise, ein Gespräch ohne Absicht noch Plan, ein Krug Wein, Blumen, darin und in nichts sonst gipfelt der höchste Wunsch des persischen Weisen. Die Liebe erregt und ermüdet, das Handeln verzettelt und geht fehl, niemand gelangt zum Wissen, und das Denken färbt alles trüb. Daher lassen wir besser ab vom Wünschen und Hoffen, vom müßigen Ehrgeiz, die Welt erklären, und dem törichten Vorhaben, sie verbessern oder regieren zu wollen. Alles ist nichts oder, wie es in der Griechischen Anthologie heißt: »Alles rührt von der Unvernunft«, dies sagt ein Grieche [70] und somit ein rationaler Geist.
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Wir werden gleichgültig bleiben gegenüber der Wahrheit oder Lüge aller Religionen, aller Philosophien, aller umsonst nachprüfbaren Hypothesen, die wir Wissenschaften nennen. Ebensowenig wird uns das Schicksal der sogenannten Menschheit kümmern und das, was sie in ihrer Gesamtheit erleidet oder nicht erleidet. Karitas, gewiß, unserem »Nächsten« gegenüber, wie es im Evangelium heißt, nicht aber dem Menschen gegenüber, der darin nicht erwähnt wird. Bis zu einem gewissen Grad sind wir alle so: Inwieweit berührt, selbst die Besten unter uns, ein Massaker in China? Weniger schmerzlich jedenfalls, selbst jene, für die alles vorstellbar ist, als die ungerechte Ohrfeige, die man einem Kind auf der Straße vor unseren Augen gibt!
Karitas für alle, Intimität mit niemandem. So interpretiert Fitzgerald, der englische Übersetzer, in seinen Anmerkungen einen Aspekt in Khayyams Ethik.
Das Evangelium empfiehlt zwar die Liebe zum Nächsten, sagt aber nichts von der Liebe zum Menschen oder zur Menschheit, der in der Tat niemand helfen kann.
Man wird sich vielleicht fragen, ob ich mir die Philosophie Khayyams zu eigen mache, so wie ich sie hier, ich glaube zutreffend, von neuem darstelle und auslege. Dazu kann ich nur sagen, ich weiß es nicht. An manchen Tagen halte ich sie für die beste, ja sogar die einzige aller praktischen Philosophien. An anderen Tagen wieder kommt sie mir nichtig, tot und nutzlos vor wie ein leeres Glas. Ich kenne mich nicht, weil ich denke. Und weiß daher nicht, was ich wirklich denke. Wäre ich ein gläubiger Mensch, wäre ich anders, aber auch wenn ich verrückt wäre, wäre ich anders. Oder besser: Wenn ich ein Anderer wäre, wäre ich anders.
Außer diesen Dingen der profanen Welt gibt es fraglos noch die Geheimlehren der esoterischen Orden, die offenkundigen Mysterien, die
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