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Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Zenith , Fernando Pessoa
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etwas Subtiles, Unverständliches verbindet, was ich empfinde, mit den Verladearbeiten, irgendeine unbekannte Empfindung verwandelt all meinen Überdruß, meine Angst, meinen Ekel in eine Kiste und hebt sie auf die Schultern eines Mannes, der laut Witze reißt, auf ein nicht vorhandenes Fuhrwerk. Und das Tageslicht, heiter wie immer, fällt, da die Straße eng ist, schräg auf die Stelle mit den Kisten – doch nicht auf die Kisten, die im Schatten stehen, sondern weiter hinten hin, da, wo die Transportarbeiter mit ihrem Nichtstun beschäftigt sind, und das auf unabsehbare Zeit.

450
    Wie eine schwarze Hoffnung lag eine Art Vorankündigung in der Luft; der Regen selbst schien eingeschüchtert; ein taubes Schwarz schwieg sich über der Umgebung aus. Plötzlich, wie ein Schrei, zersplitterte ein wundervoller Tag. Kaltes Höllenlicht durchzuckte alles, drang in Gehirne wie letzte Winkel. Alles erstarrte. Eine Last fiel ab von allem, als der Donnerschlag verklungen war. Der traurige Regen klang heiter mit seinem rauhen, schlichten Rauschen. Unwillkürlich spürte man das Herz, und alles Denken war Betäubung. Eine unklare Religion entstand im Büro. Niemand war er selbst, und Chef Vasques erschien an der Tür seines Arbeitszimmers, um daran zu denken, daß er etwas sagen wollte. Moreira lächelte, sein Gesicht war noch umflort vom Gelb plötzlicher Angst. Sein Lächeln besagte, daß der nächste Donnerschlag zweifellos schon aus größerer Ferne käme. Ein schnelles Fuhrwerk übertönte laut die Geräusche der Straße. Das Telefon begann hemmungslos zu klingeln. Chef Vasques ging, statt zurück in sein Zimmer, auf den Apparat im großen Arbeitsraum zu. Ruhe stellte sich ein, Stille, und der Regen fiel nieder wie ein Alptraum. Chef Vasques vergaß das Telefon, das aufgehört hatte zu läuten. Im Hintergrund des Raumes bewegte sich der Dienstmann wie etwas Unbequemes.
    Eine große erholende, befreiende Freude verwirrte uns alle. Wir arbeiteten wie benommen, waren entgegenkommend und mit überströmender Natürlichkeit gesellig. Ohne daß ihm jemand dies aufgetragen hätte, öffnete der Dienstmann weit die Fenster. Ein frischer, undefinierbarer Geruch wehte mit der feuchten Luft in den großen Raum. Es regnete nur mehr leicht und bescheiden. Die Geräusche der Straße waren unverändert und doch verschieden. Man vernahm die Stimmen der Fuhrleute, und es waren wirklich Menschen. Klar und deutlich suchten auch die Straßenbahnklingeln in der Seitenstraße Verständigung mit uns. Das laute Lachen eines einsamen Kindes klang in der gereinigten Atmosphäre wie das Zwitschern eines Kanarienvogels. Der Regen ließ weiter nach.
    Es war sechs Uhr. Das Büro wurde geschlossen. Chef Vasques rief durch den halb geöffneten Windschirm: »Sie können gehen«, es klang wie ein kommerzieller Segen. Ich stand sogleich auf, schloß das Hauptbuch und verwahrte es. Ich legte den Federhalter sichtbar auf die Vertiefung des Tintenfasses, sagte, auf Moreira zutretend, hoffnungsvoll »Bis morgen« und drückte ihm die Hand wie nach einem großen Gunstbeweis.

451
    Reisen? Existieren ist reisen genug. Ich fahre von Tag zu Tag wie von Bahnhof zu Bahnhof im Zug meines Körpers oder meines Schicksals und blicke auf Straßen und Plätze, auf Gesichter und Gesten, immer gleich und immer verschieden, wie auch Landschaften es sind.
    Was ich mir vorstelle, sehe ich. Was anders tue ich, wenn ich reise? Nur eine äußerst schwache Vorstellungskraft rechtfertigt einen Ortswechsel, um empfinden zu können.
    »Jede Straße, sogar die Straße von Entepfuhl, führt dich ans Ende der Welt.« [71]   Doch das Ende der Welt ist, sobald man die Welt umrundet hat, das Entepfuhl, von dem aus man aufgebrochen ist. In der Tat entspricht das Ende der Welt, wie auch ihr Anfang, unserer Vorstellung von der Welt. In uns sind die Landschaften Landschaft. Daher erschaffe ich sie, wenn ich sie mir vorstelle; wenn ich sie erschaffe, sind sie; wenn sie sind, sehe ich sie, wie ich alle anderen sehe. Wozu also reisen? Wo anders wäre ich in Madrid, Berlin, Persien, China oder an beiden Polen als in mir selbst, in dem, was und wie ich empfinde?
    Das Leben ist, was wir aus ihm machen. Die Reisen sind die Reisenden. Was wir sehen, ist nicht, was wir sehen, sondern was wir sind.

452
    Der einzige wahre Reisende, den ich je kannte, war ein Laufbursche in einem Büro, in dem ich vor Zeiten selbst Angestellter war. Dieser Junge sammelte Werbebroschüren von Städten, Ländern und

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