Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
und das Staunen des jungen Mannes mit dem in Butterbrotpapier eingewickelten lunch überzeugt mich nicht und wird wohl auch die unflätige Blondine nicht überzeugen. »Vielleicht war es doch …«, und das Gelächter von dreien der vier Mädchen bedrängt obszön mein Ohr. […] »Und dann habe ich mich vor dem Kerl aufgepflanzt und ihm ins Gesicht gesagt, jawohl, ins Gesicht gesagt, oh, du …« – und der arme Teufel schwindelt, denn sein Bürochef – ich höre es an seiner Stimme, daß sein Kontrahent der Chef des mir unbekannten Büros war – hat die Geste dieses Strohhalm-Gladiators niemals in der Schreibtisch-Arena entgegengenommen. »Und dann bin ich zum Rauchen aufs Klosett gegangen«, lacht der Kleine mit dem dunklen Flicken auf dem Hosenboden.
Andere, die allein oder in Gruppen vorbeigehen, sind stumm oder unterhalten sich, und ich verstehe sie nicht, und doch sind mir alle Stimmen dank einer intuitiven, verschlissenen Transparenz klar und vernehmlich. Ich wage nicht auszusprechen – ja, wage nicht einmal, es mir selber schriftlich zu sagen, auch wenn ich es gleich anschließend wieder ausstreichen würde, was ich in zufälligen, schmutzigen und durchbohrenden Blicken alles beobachtet habe. Ich wage es nicht, denn wenn man schon ein Erbrechen herbeiführt, dann nur einmal.
»Der Kerl war so dick, daß er nicht einmal die Treppe sehen konnte.« Ich hebe den Kopf. Dieser junge Bursche kann wenigstens beschreiben. Und wenn die Leute beschreiben, sind sie besser als wenn sie fühlen, denn beim Beschreiben vergessen sie sich selbst. Mein Ekel läßt nach. Ich sehe den Kerl. Ich sehe ihn mit photographischer Klarheit. Sogar der unschuldige umgangssprachliche Ausdruck belebt mich. Gepriesen sei die Luft, die meine Stirn streift – ein Kerl, so dick, daß er nicht einmal sehen konnte, daß die Treppe aus Stufen bestand –, vielleicht war es die Treppe, auf der die Menschheit emporstolpert, sich vorwärts tastet und auf der trügerischen Steigung diesseits des Hinterhofs ins Gedränge gerät.
Intrigen, üble Nachrede, lautstarkes Brüsten mit dem, was man nicht zu tun wagte, die Zufriedenheit jeder armseligen Kreatur, angetan mit dem unbewußten Bewußtsein der eigenen Seele, die schmutzige Sexualität, die Scherze grob wie Affenkitzeln, die schreckliche Unwissenheit bezüglich der eigenen Unwichtigkeit … All das ruft bei mir den Eindruck eines abscheulichen, niederträchtigen Tiers hervor, erschaffen in unfreiwilligen Träumen, aus den feuchten Brotrinden der Begierde, den angebissenen Resten der Empfindungen.
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10 . 4 . 1930
Das gesamte Leben der menschlichen Seele ist eine Bewegung im Schatten. Wir leben in einem Zwielicht des Bewußtseins, uns nie dessen sicher, was wir sind, oder dessen, was wir zu sein glauben. In den Besten von uns lebt die Eitelkeit, steckt ein Fehler, den wir nicht klar erkennen. Wir sind etwas, das sich in einem Zwischenakt abspielt; mitunter erspähen wir durch bestimmte Türen hindurch etwas, das vielleicht Kulisse ist. Die Welt wirkt verworren wie Stimmen in der Nacht.
Soeben, beim erneuten Durchlesen dieser Seiten, die ich mit einer Klarheit schreibe, die nur auf ihnen fortdauert, frage ich mich: Was ist das und wozu? Wer bin ich, wenn ich fühle? Was stirbt in mir, wenn ich bin?
Wie jemand, der von weit oben das Leben im Tal auszumachen versucht, betrachte ich mich selbst von einem Gipfel aus und bin zusammen mit allem eine undeutliche, unbestimmbare Landschaft.
Während dieser Stunden, wenn sich in meiner Seele ein Abgrund auftut, bedrückt mich die kleinste Kleinigkeit wie ein Abschiedsbrief.
Ich fühle mich beständig wie kurz vor dem Erwachen, empfinde mich als Hülle meiner selbst, ersticke an Folgerungen, am liebsten schriee ich, verhallte meine Stimme nicht ungehört. Doch mit mir ist ein tiefer Schlaf, der wie Wolken von einer Empfindung zur anderen zieht, Wolken, die vielsonnenfarben und grün das halb beschattete Gras der weiten Felder färben.
Ich bin wie einer, der blindlings sucht, nicht wissend wonach noch wo er es finden könnte. Wir spielen Verstecken mit niemandem. Irgendwo gibt es einen transzendenten Trick, eine ausstrahlende Gottheit, nur vom Hörensagen bekannt.
Ja, ich lese erneut diese Seiten, die vergebliche Stunden verzeichnen, einen kurzen Frieden und kleine Illusionen, große, auf die Landschaft übertragene Hoffnungen, Kümmernisse wie Zimmer, in die man nicht geht, bestimmte Stimmen, große Müdigkeit, das noch nicht
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