Das Buch der Vampire 01 - Bleicher Morgen
Victoria.
»Sie wollten mich zu Lilith bringen«, berichtete sie. »Warum haben sie mich dort zurückgelassen? Warum haben sie mich nicht direkt zu ihr geführt?«
»Da ich nicht dabei war und leider nicht in ihre Pläne eingeweiht bin, kann ich nur mutmaßen, Victoria. Aber ich würde annehmen, dass sie entweder ihren Aufenthaltsort nicht genau kannten oder sich nicht sicher waren, ob sie Sie würde... äh … empfangen können.«
Dankbar dafür, dass man sie, aus welchen Gründen auch immer, nicht vor die Vampirkönigin geschleift hatte, während sie bewusstlos und mit einem schweren, schwarzen Lumpen vermummt gewesen war, lehnte Victoria sich in ihrem Sitz zurück. Sie würden sich eines Tages begegnen, doch hoffte sie inständig, dass dies dann zu ihren und nicht zu Liliths Bedingungen geschah.
Das Letzte, worauf Victoria Lust hatte, war die Geburtstagsfeier des Herzogs von Mullington. Aber ihr blieb keine andere Wahl.
Ihre Mutter war in kämpferischer Stimmung, denn sie hatte festgestellt, dass es tatsächlich schon über eine Woche her war, seit der Marquis seiner Verlobten zuletzt einen Besuch abgestattet hatte. Victoria hatte das Thema gemieden und sich in ihrem Zimmer versteckt, um sich zu überlegen, wie sie es ihr sagen
sollte, doch das hatte die Besorgnis ihrer Mutter nur noch weiter geschürt. Um nichts in der Welt würde Melly zulassen, dass die Verlobung gelöst wurde. Rockley war eine zu gute Partie, um ihn vom Haken zu lassen. Er hatte um Victorias Hand angehalten, und sie würde dafür sorgen, dass er sie auch nahm.
So kam es, dass Lady Melly ihre Tochter an diesem schwülen Sommerabend zur Kutsche der Grantworths scheuchte und ungeduldig mit einer Schuhspitze tippend darauf wartete, dass der Kutscher ihr beim Einsteigen half. Sie kletterte hinterdrein und ließ sich Victoria gegenüber nieder.
»Deine Zofe hat heute Abend bei deiner Frisur gute Arbeit geleistet, Victoria«, bemerkte sie. »Wenngleich sie beinahe besessen davon zu sein scheint, diese Stäbchen in deinem Haar unterzubringen. Warum benutzt sie nicht Federn oder Perlen anstelle dieser chinesischen Dinger?« Die heutigen waren mit rosa-grünen Spiralen bemalt - Verbenas eigener Entwurf, auf den sie ziemlich stolz war.
»Sie probiert gern unterschiedliche Kreationen aus«, erwiderte Victoria in der Hoffnung, einen längeren Vortrag im Keim zu ersticken. »Ich finde, es sieht recht einzigartig aus.«
Es schien, als würde Melly diese Erklärung glücklicherweise akzeptieren, denn sie konzentrierte sich nun darauf, an ihrem Kleid, ihrem Fächer und ihrem Abendtäschchen herumzunesteln, aus dessen Tiefen sie schließlich die dicke, weiße Einladung hervorkramte. Sie überflog sie ein weiteres Mal, wobei sie vor sich hinmurmelte, dass es eine ziemliche Leistung des Herzogs von Mullington sei, trotz all seiner Sünden und Laster tatsächlich das Alter von fünfzig erreicht zu haben.
Ihre Tochter unterließ es zu bemerken, dass seine Sünden, so
groß sie auch sein mochten, nichts waren verglichen mit denen anderer Gesellschaftsgrößen Londons.
Victorias frühlingsgrünes Kleid war ein bisschen schwer für eine solch warme Nacht, aber es regierte nun einmal das Diktat der Mode. Seide sah teuer aus und fühlte sich teuer an, und Lady Melly zufolge hatte Rockleys zukünftige Braut angemessen gekleidet zu sein.Denn sie war noch immer die Verlobte des Marquis, und Melly würde dafür sorgen, dass sie auch jeden Zoll so aussah. Kleine pinkfarbene und weiße Rosenknospen, die mit dunkelgrünen Blättern paspeliert waren, erblühten in der Spitze entlang ihres Mieders, an den Flügelärmeln und in den Falten ein Stück oberhalb des Rocksaumes. Hier, in der Kutsche, hielt Victoria eine rosarote, gehäkelte Stola auf ihrem Schoß und dazu einen Pompadour in derselben Farbe. Ihre Handschuhe waren dunkelgrün.
Victoria wusste, dass sie gut aussah; wenn sie sich doch nur auch gut gefühlt hätte. Sie konnte nichts weiter tun, als ihrer Mutter zuzuhören, die sie darüber belehrte, wie sie sich zu benehmen hatte, falls sie Phillip auf dem Ball begegnete - nein, sie musste wieder als Rockley an ihn denken; dass sie sittsam und höflich, dabei aber einen Hauch geheimnisvoll sein musste, wenn sie sein Interesse von neuem erwecken wollte - so als wäre es wirklich abgeflaut.
Natürlich verstand Lady Melly nicht, was Victoria ihr zu sagen versucht hatte: Sein Interesse war nicht abgeflaut - es war schlichtweg verpufft. Fft!
Die Fahrt zu den
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