Das Buch der Vampire 01 - Bleicher Morgen
einen Schritt von ihr zurücktrat. Ihre Finger glitten bis zu den Spitzen durch seine, bevor er sie losließ. Die Tür war direkt hinter ihnen. Den Blick seiner halb geschlossenen Augen noch immer bedeutungsvoll und entschlossen auf ihr Gesicht gerichtet, fasste er nach dem Türgriff, dann drehte er sich um und verschwand in der Nacht.
»Also, wenn das kein Kuss echter Liebe war, dann weiß ich auch nicht.«
Victoria schoss herum und sah Verbena - Mist, sie hatte sie noch nicht einmal kommen hören! - mit eindeutig sehnsüchtiger Miene am Fuß der Treppe stehen. »Liebe ist nicht zwingend nötig für eine erfolgreiche Ehe«, erwiderte Victoria förmlich, »aber sie kann gewiss auch nicht schaden. Also, ist Barth inzwischen eingetroffen?«
»Ja, er wartet gleich um die Ecke. Sind Sie sicher, dass ich heute Nacht nicht mitkommen kann?«
»Nein, Verbena. Danke, aber ich werde allein gehen. Barth wird mich sicher hinbringen, und ich werde vor Morgengrauen zurück sein. Du musst hierbleiben, für den Fall, dass meine Mutter nach mir fragt. Sie war besorgt, als ich das Theater verließ, weil ich ihr gesagt habe, dass ich mich nicht wohl fühle. Nun, ich
sollte mich jetzt besser auf den Weg machen, wenn ich darauf hoffen will, heute Nacht noch etwas Schlaf zu bekommen.«
»Barth wird warten, während Sie sich umziehen.«
»Das werde ich nicht, aber ich nehme meinen dunkelroten Umhang mit. Seine Kapuze wird mein Gesicht verbergen.« Für den Fall, dass Max ebenfalls im Silberkelch sein sollte.
Als sie vierzig Minuten später aus Barths Droschke stieg, hatte Big Ben gerade halb eins geschlagen. Unter dem schweren Umhang hielt Victoria die Pistole, an die sie dieses Mal zum Glück gedacht hatte - denn heute Nacht würde Verbena ihr nicht zu Hilfe eilen können. Außerdem hatte sie drei an verschiedenen Stellen versteckte Pflöcke dabei sowie ihr Abendtäschchen mit einer Phiole gesalzenen Weihwassers und schließlich noch ein großes Kruzifix, das in ihrem vergleichsweise hohen Ausschnitt steckte. Auf Letzterem hatte Verbena bestanden, denn wenn sie schon nicht mitkommen durfte, wollte sie zumindest dafür sorgen, dass ihre Herrin so gut wie möglich geschützt war.
Von Vampiren würde ihr also keine Gefahr drohen, und dank ihrer Pistole auch nicht von anderen Angreifern.
Aber wenn sie an Sebastian Vioget dachte, war sie aus unerfindlichen Gründen gar nicht mehr so überzeugt davon, dass sie nicht in Gefahr war.
Im Silberkelch gab es mehr freie Tische als bei Victorias letztem Besuch. Aber da es damals nur einer gewesen war und dieses Mal drei, fasste sie es nicht als Indiz für ein schlechter laufendes Geschäft auf.
Unter der Kapuze prickelte Victorias Nacken vor Kälte, so als ob ein arktischer Wind darüber hinwegfegen würde. Sie blieb
am Fuß der steilen Treppe stehen und warf einen Blick in die Runde, um festzustellen, ob sie jemanden kannte.
Amelie, die platinblonde Pianistin, die letztes Mal bei Verbena gesessen hatte, befand sich zur Linken auf ihrem Platz. Sie zeigte denselben melancholischen Ausdruck, den Victoria schon zuvor an ihr gesehen hatte, und spielte dieselbe traurige, schleppende Musik. Max war nicht da, und soweit sie sehen konnte, Sebastian ebenso wenig.
Nachdem sie die Kapuze gelüftet hatte, trat Victoria aus dem Schatten neben der Treppe und steuerte einen der Tische an. Berthy, die burschikose Bedienung, erkannte sie, obwohl Victoria beim ersten Mal als Mann gekleidet gewesen war. Offensichtlich hatte Sebastian Recht damit gehabt, dass eine Verkleidung ihr Geschlecht nicht verbergen konnte. Beide Hände mit überschwappenden Bierkrügen beladen, kam Berthy an Victoria vorbei und verpasste ihr einen Rempler, der einen nassen Fleck auf ihrem Umhang zur Folge hatte. »Er hat gesagt, Sie sollen nach hinten kommen.«
Victoria verschwendete keine Energie darauf, sich zu fragen, woher Sebastian wusste, dass sie da war. Vielleicht hatte er Berthy angewiesen, ihr das auszurichten, wann auch immer sie auftauchen würde. Sie wollte schon auf die Ziegelmauer mit der versteckten Tür zugehen, als sie es sich anders überlegte und sich stattdessen an einen leeren Tisch mit drei Stühlen setzte.
Auf ihrem Weg zurück zum Tresen blieb Berthy gerade lange genug bei Victoria stehen, um zu nuscheln: »Was solls’n sein?«
»Apfelmost«, erwiderte diese an Berthys Hinterkopf gewandt, aber die Bedienung nickte, also hatte sie sie verstanden.
Victoria richtete ihre Aufmerksamkeit auf den
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