Das Buch der Vampire 01 - Bleicher Morgen
Schankraum
und vertrieb sich die Zeit damit, herauszufinden, welche Gäste Untote und welche Sterbliche waren. Zu ihrer Überraschung war das Verhältnis ziemlich ausgewogen, und es gab sogar Tische, an denen sich beide Gattungen mischten. Wieso ein Sterblicher freiwillig mit einem Vampir verkehren sollte, überstieg allerdings ihr Vorstellungsvermögen. Es war wie mit der Fliege und der Spinne, die sich zum Tee treffen: gefährlich, wenn nicht gar tödlich.
Als Berthy, wieder beide Hände voll, erneut vorbeigeschaukelt kam, beobachtete Victoria, wie sie zwei Krüge auf einen Tisch knallte, der mit Vampiren besetzt war. Etwas, das zu dunkel für Rotwein war, schwappte über den Rand und auf den Tisch. Victoria, die fühlte, wie sich die Härchen auf ihren Armen aufstellten, sah rasch weg, als einer der Untoten gierig zu trinken begann.
Als Berthy den Apfelmost vor ihr abstellte, bedachte sie Victoria mit einer Grimasse, die wohl ein Lächeln sein sollte, dann beugte sie sich zu ihr und sagte: »Sie lassen ihn zu sich kommen, stimmt’s? Die beste Art, sie zu erziehen.« Und weg war sie.
Victoria verbarg ihr Lächeln in dem Metallkrug und nahm einen Schluck von dem vergorenen Getränk. Nicht schlecht. Sie hatte dieses Mal an Münzen gedacht und zog nun einen Viertelpenny hervor, um ihn für Berthy auf dem Tisch zu hinterlassen.
Just in diesem Augenblick bog Max - natürlich ganz in Schwarz gekleidet - um die Ecke neben der Treppe. Genau wie zuvor Victoria sah er sich im Raum um, und ihr blieb, sich ins Unvermeidliche fügend, keine andere Wahl, als die Hand zu heben, um ihn auf sich aufmerksam zu machen.
Er wirkte nicht überrascht, sie hier zu sehen; tatsächlich verriet
die Eile, mit der er sich seinen Weg zu ihrem kleinen, runden Tisch bahnte, dass er nach ihr gesucht hatte. Eustacia musste ihn eingeweiht haben.
»Guten Abend, Max«, sagte Victoria, als er sich auf den Stuhl neben ihr setzte. »Soll ich Berthy bitten, Ihnen ein Bier zu bringen? Oder hätten Sie lieber das, was die dort trinken?« Sie machte eine Handbewegung zu den Vampiren neben ihnen. »Für Chianti wirkt es ein bisschen zu dickflüssig.«
Er lehnte sich zu ihr, die Ellbogen neben ihren auf dem Tisch, und behielt den Schankraum im Auge, während er sprach. »Ich kann nicht fassen, dass Sie allein hergekommen sind, Victoria.«
»Ich bin ein Venator, Max, genau wie Sie.«
»Ich weiß nicht, was Eustacia Ihnen eingeredet hat, aber Sebastian Vioget...«
»...ist hocherfreut, Sie in seiner Schänke begrüßen zu dürfen.«
Max’ innere Anspannung verpuffte. Victoria spürte förmlich, wie sie aus ihm herausströmte. Er saß nahe genug, dass sie merkte, wie sich seine verkrampften Muskeln entspannten und er weich und tief einatmete.
»Vioget. Welch perfekt gewählter Zeitpunkt. Wie immer.«
Victoria sah ihn an. Der große und schlanke Max saß vollkommen entspannt auf dem Stuhl neben ihr; er erweckte den Eindruck, als sei soeben sein bester Freund mit der Nachricht eingetroffen, dass draußen die Sonne scheine. Er lächelte, sodass seine ebenmäßigen, weißen Zähne und ein Grübchen neben dem Mundwinkel sichtbar wurden. Trotzdem entging ihr nicht die Schärfe, die unter diesem unverfänglichen Lächeln lag.
»Und wer ist Ihre zauberhafte Begleiterin?« Sebastian machte
es sich auf dem dritten Stuhl, links von Victoria, bequem. Damit saßen sie in einem weiten V um den Tisch herum, mit Victoria am Scheitelpunkt, das Gesicht dem Schankraum zugewandt.
Sie musste die Situation retten, bevor Max antworten konnte. »Dann bin ich Ihnen gegenüber wohl im Vorteil, Mr. Vioget. Mein Name ist Victoria Grantworth, und ich weiß bereits, dass Ihnen dieses Lokal gehört. Ich habe Sie bei meinem letzten Besuch hier gesehen.« Nichts von alledem war genau genommen eine Lüge.
Anerkennung blitzte in seinen Augen auf, als er über den Tisch fasste und ihre Hand ergriff. »Ich bin entzückt, Ihre Bekanntschaft zu machen, Miss Grantworth.« Er führte ihre Hand zu einem Kuss an seine Lippen, wobei er sie mit seinen goldenen Augen beobachtete. Das rief in ihr die Erinnerung an ihren letzten Abend im Silberkelch wach - als sie ihm als Mann verkleidet die Hand geschüttelt, ihre schmale in seiner breiten gelegen hatte.
Und dann durchzuckte sie eine andere Erinnerung an seine bronzefarbene Hand, an seine gespreizten Finger, wie sie über ihren cremeweißen Bauch gestrichen waren. Ihr Magen zog sich unwillkürlich zusammen, so als versuchte Sebastian gerade
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