Das Buch der verlorenen Dinge
Mann. »Du warst nur zu eigensinnig, um es zu verstehen. Ich bin dir gefolgt und habe dir das Leben gerettet, nur damit du die Burg erreichst. Und jetzt geh zum König. Er erwartet dich. Los!«
Und damit lief der Krumme Mann wieder Richtung Wald davon, wobei er seine Klinge wild durch die Luft sausen ließ, als hätte er die Wölfe bereits vor sich. David sah ihm nach, bis er verschwunden war, und da ihm nichts anderes übrig blieb, als dem Rat des Krummen Mannes zu folgen, trieb er Scylla auf das Licht am Horizont zu. Der Krumme Mann beobachtete ihn von einer Höhle am Fuß einer alten Eiche. Es war sehr viel schwieriger gewesen, als er gedacht hatte, aber bald würde der Junge sein Ziel erreichen, und der Krumme Mann würde seiner Belohnung einen Schritt näher sein.
»Georgie-Porgie, süßer Fratz«, trällerte er. Er leckte sich über die Lippen. »Süßer Georgie, süßer Fratz.« Er kicherte, dann schlug er die Hand vor den Mund, um sein Lachen zu unterdrücken. Er war nicht allein. Ganz in der Nähe hechelte jemand, und Atemwolken schwebten in der Dunkelheit. Der Krumme Mann kauerte sich zusammen, nur die Hand mit dem gebogenen Messer vor sich ausgestreckt, halb verborgen unter dem Schnee.
Und als der Kundschafterwolf an ihm vorüberlief, schlitzte er ihn von der Kehle bis zum Schwanz auf, und die Eingeweide dampften in der kalten Nachtluft.
Die Straße wurde immer gewundener und schmaler, je näher David seinem Ziel kam. Nackter Fels erhob sich zu beiden Seiten und bildete eine enge Schlucht, in der Scyllas Hufschlag widerhallte. Hier lag der Schnee nicht so hoch, da der Boden durch die Felswände geschützt war. Schließlich erreichte David das Ende der Schlucht, und vor ihm breitete sich ein Tal aus, das von einem Fluss durchzogen war. An seinem Ufer, etwa eine Meile entfernt, stand eine mächtige Burg mit hohen, dicken Mauern und vielen Türmen und Gebäuden. Die Fenster waren erleuchtet, und auf der Brustwehr brannten Feuer. David konnte Soldaten erkennen, die dort oben Wache hielten. Während er noch hinübersah, wurde das Fallgatter hochgezogen, und ein Trupp von zwölf Reitern kam heraus. Nachdem sie die Zugbrücke überquert hatten, wandten sie sich in Davids Richtung und gaben ihren Pferden die Sporen. Da ihm die Angst vor den Wölfen nach wie vor im Nacken saß, ritt David ihnen entgegen. Sobald die Reiter ihn erblickten, galoppierten sie auf ihn zu und bildeten einen Kreis um ihn, die Männer hinter ihm zur Schlucht gewandt, die Lanzen aufgestellt, für den Fall, dass sich von dort eine Bedrohung näherte. »Wir haben auf dich gewartet«, verkündete einer der Männer. Er war älter als die anderen, und sein Gesicht war gezeichnet von den Narben vergangener Schlachten. Unter seinem Helm schaute graubraunes, gelocktes Haar hervor, er trug einen dunklen Mantel und darunter einen silbernen Brustpanzer mit bronzenen Beschlägen. »Wir haben den Befehl, dich in die Sicherheit der Gemächer des Königs zu bringen. Komm.«
David ritt mit ihnen, rundum von bewaffneten Reitern umgeben, sodass er sich beschützt und gefangen zugleich fühlte. Sie erreichten die Zugbrücke ohne Zwischenfall, und sobald sie in den Burghof geritten waren, wurde das Fallgatter wieder heruntergelassen. Diener eilten herbei und halfen David beim Absteigen. Sie hüllten ihn in einen Mantel aus weichem, schwarzem Fell und gaben ihm einen silbernen Becher mit einem heißen, süßen Getränk, um ihn aufzuwärmen. Einer von ihnen griff nach Scyllas Zügeln. David wollte ihn daran hindern, doch der Anführer der Reiter beschwichtigte ihn.
»Sie werden sich gut um dein Pferd kümmern, und es wird ganz in der Nähe deines Gemachs untergestellt. Ich bin Duncan, Hauptmann der königlichen Wache. Hab keine Angst. Bei uns bist du in Sicherheit, ein Ehrengast des Königs.«
Er bat David, mit ihm zu kommen, und so folgte der Junge ihm durch den Hof ins Innere der Burg. Dort waren mehr Menschen, als David auf seiner gesamten Reise gesehen hatte, und alle beäugten ihn neugierig. Dienstmägde blieben stehen und flüsterten sich hinter vorgehaltener Hand etwas zu. Alte Männer verneigten sich leicht, als er vorüberging, und kleine Jungen betrachteten ihn nahezu ehrfürchtig.
»Sie haben schon viel von dir gehört«, sagte Duncan.
»Wie kann das sein?«, fragte David.
Doch Duncan erwiderte nur, der König habe seine Mittel und Wege.
Sie gingen durch steinerne Flure, vorbei an lodernden Fackeln und kostbar ausgestatteten Räumen. Hier
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