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Das Buch der verlorenen Dinge

Das Buch der verlorenen Dinge

Titel: Das Buch der verlorenen Dinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Connolly
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er neben seinem toten Kumpan auf die Knie.
    David wendete Scylla, sodass sie vor dem Sterbenden stand.
    »Ich habe euch gewarnt!«, brüllte er. Er weinte jetzt, um Roland und um seine Mutter und seinen Vater, ja sogar um Georgie und Rose, um all die Dinge, die er verloren hatte, solche, die einen Namen hatten, und solche, die man nur fühlen konnte. »Ich habe euch gesagt, ihr sollt uns in Ruhe lassen, aber ihr wolltet ja nicht hören. Jetzt seht euch an, wohin das geführt hat. Ihr Idioten! Ihr verdammten Dummköpfe!«
    Der Mund des Schützen öffnete sich, und seine Lippen formten Worte, doch es kam kein Ton heraus. Seine Augen fixierten den Jungen. David sah, wie sie sich verengten, als verstünde der Schütze nicht, was gesagt wurde oder was mit ihm geschah, während er dort im Schnee kniete und die Blutlache um ihn herum immer größer wurde.
    Dann weiteten sie sich langsam und brachen, als der Tod ihm die Erklärung gab.
     
     
    David stieg ab und überprüfte Scyllas Fesseln, um sich zu vergewissern, dass ihr bei dem Überfall nichts zugestoßen war. Sie schien unverletzt. Davids Schwert war blutbeschmiert. Er überlegte, ob er es an der zerlumpten Kleidung eines der beiden Männer abwischen sollte, doch er mochte die Toten nicht berühren.
    Er wollte es aber auch nicht an seinen eigenen Kleidern abwischen, weil dann ihr Blut an ihm haften würde. Schließlich fand er in seiner Tasche einen alten Stoffstreifen, in den Fletcher ein Stück Käse eingeschlagen hatte, und damit reinigte er die Klinge. Den blutigen Stoff warf er in den Schnee, dann schob er die beiden toten Männer mit den Füßen in den Straßengraben. Er war zu erschöpft, um sie sorgfältiger zu verbergen. Plötzlich grummelte es in seinem Magen. Ein säuerlicher Geschmack stieg ihm in den Mund, und ihm brach der Schweiß aus. Strauchelnd schleppte er sich hinter einen Felsen und übergab sich, immer und immer wieder, bis nur noch faulige Luft kam.
    Er hatte zwei Männer getötet. Er hatte es nicht gewollt, aber jetzt waren sie tot, seinetwegen. Der Tod der Loups und Wölfe bei der Schlucht und selbst das, was er der Jägerin im Wald und der Zauberin im Turm angetan hatte, war ihm nicht so auf die Seele geschlagen. Ja, er war verantwortlich für den Tod dieser Wesen, aber jetzt hatte er einen Mann mit seiner Schwertspitze getötet. Dem anderen waren Scyllas Hufe zum Verhängnis geworden, aber David hatte im Sattel gesessen, und er hatte sie zum Steigen gebracht. Er hatte nicht einmal darüber nachgedacht, was er tat; es war wie von selbst geschehen, und diese Fähigkeit, anderen Schaden zuzufügen, erschreckte ihn mehr als alles andere.
    Er wischte sich den Mund mit Schnee ab, dann saß er wieder auf und trieb Scylla vorwärts, um zumindest dem Ort der Tat zu entkommen, wenn auch nicht der Erinnerung daran. Nach einer Weile begannen dicke Schneeflocken zu fallen, die auf seinen Kleidern und auf Scyllas Hals und Rücken liegen blieben. Es war vollkommen windstill. Der Schnee fiel gerade und gleichmäßig und bedeckte alles – Straßen, Bäume, Sträucher und Körper, lebende wie tote – mit einer frischen, weißen Schicht. Bald waren die beiden Räuber im Graben zugeschneit, und dort wären sie bis zum Frühling geblieben, unentdeckt und unbetrauert, hätte nicht eine feuchte Schnauze ihre Witterung aufgenommen und ihre Leichen aufgespürt. Der Wolf stieß ein dunkles Heulen aus, und plötzlich erwachte der Wald zum Leben, als das Rudel hervorbrach und sich ausgehungert über Fleisch und Knochen hermachte. Die Schwachen mussten sich um die Überreste balgen, während die Starken und Schnellen sich die Bäuche vollschlugen. Doch sie waren mittlerweile zu viele, um von solch einem mageren Mahl satt zu werden. Das Rudel war jetzt auf mehrere Tausend angewachsen: weiße Wölfe aus dem hohen Norden, die so vollkommen mit der Winterlandschaft verschmolzen, dass nur ihre dunklen Augen und roten Lefzen sie verrieten; schwarze Wölfe aus dem Osten, von denen man sagte, sie seien die Geister von Hexen und Dämonen, die die Gestalt wilder Tiere angenommen hatten; graue Wölfe aus den Wäldern im Westen, die größer und langsamer waren als die anderen, ihnen nicht trauten und stets unter sich blieben; und schließlich die Loups, die sich kleideten wie Menschen, gierig waren wie Wölfe und herrschen wollten wie Könige. Sie hielten sich vom Rest des Rudels fern und beobachteten vom Waldrand, wie ihre primitiven Brüder mit gefletschten Zähnen um die

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