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Das Buch der verlorenen Dinge

Das Buch der verlorenen Dinge

Titel: Das Buch der verlorenen Dinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Connolly
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solches Wissen nicht besonders schrecklich ist, doch das stimmt nicht. Es ist besser, wenn wir den Zeitpunkt und die Art unseres Todes nicht wissen (denn im Stillen hoffen wir alle, wir wären unsterblich). Diejenigen, die dieses Wissen erlangten, konnten nicht mehr schlafen und essen und all die Freuden, die das Leben bringt, nicht mehr genießen, weil das, was sie gesehen hatten, sie unablässig quälte. Ihr Dasein wurde zu einer Art lebendem Tod, in dem nur noch Angst und Trauer herrschten, sodass sie beinahe dankbar waren, wenn der Tod dann endlich kam.
    In einem Schlafzimmer lagen eine nackte Frau und ein nackter Mann, und der Krumme Mann brachte Kinder zu ihnen (nicht die besonderen, die ihm Leben gaben, sondern die anderen, die er aus den Dörfern stahl oder die vom Weg abkamen und sich im Wald verliefen), und dann flüsterten der Mann und die Frau ihnen in der Dunkelheit des Zimmers Dinge zu, die Kinder nicht wissen sollten, verstörende Geschichten davon, was Erwachsene in der Tiefe der Nacht miteinander taten, während ihre Söhne und Töchter schliefen. Dadurch starben die Kinder innerlich. Indem man sie ins Erwachsensein zwang, bevor sie bereit dafür waren, nahm man ihnen die Unschuld, und ihre Seele brach unter dem Gewicht der vergifteten Vorstellungen zusammen. Viele von ihnen wuchsen zu bösen Männern und Frauen heran, sodass die Verderbtheit sich weiter ausbreitete.
    Ein kleiner, heller Raum enthielt nur einen schlichten, schmucklosen Spiegel. Der Krumme Mann entführte Männer oder Frauen aus ihrem Ehebett, während der oder die Angetraute weiter schlief, und zwang sie, sich vor den Spiegel zu setzen, der ihnen all die dunklen Geheimnisse verriet, von denen ihnen der andere nichts gesagt hatte: all die Sünden, die sie begangen hatten und noch begehen wollten; all die Treuebrüche, die bereits auf ihrem Gewissen lasteten, und die, die noch hinzukommen würden. Dann wurden die Entführten wieder in ihr Bett zurückgebracht, und wenn sie am nächsten Morgen aufwachten, erinnerten sie sich weder an den Raum noch an den Spiegel oder daran, dass der Krumme Mann sie entführt hatte. Das Einzige, was ihnen im Gedächtnis blieb, war das Wissen, dass der Mensch, den sie liebten und von dem sie glaubten, geliebt zu werden, nicht so war, wie sie angenommen hatten. Und so wurde ihr Leben durch Misstrauen und Angst vor einem Betrug zerstört.
    Es gab auch ein Gewölbe voller Becken, die aussahen, als wären sie mit klarem Wasser gefüllt. Jedes dieser Becken zeigte einen unterschiedlichen Teil des Königreichs, sodass nur wenig von dem, was außerhalb der Burg geschah, dem Krummen Mann verborgen blieb. Indem er in eines der Becken sprang, konnte der Krumme Mann an dem Ort auftauchen, der darin abgebildet war. Die Luft begann zu flirren und zu schimmern, dann erschien plötzlich ein Arm, dann ein Bein und schließlich das Gesicht und der bucklige Rücken des Krummen Mannes, sodass er innerhalb eines Augenblicks von den Tiefen unter der Burg an jeden beliebigen Ort gelangen konnte, egal wie weit dieser auch entfernt sein mochte. Die liebste Quälerei des Krummen Mannes bestand darin, sich Männer oder Frauen zu schnappen, vorzugsweise aus großen Familien, und sie im Beckengewölbe anzuketten. Dann machte er sich auf die Jagd nach ihren Angehörigen und tötete sie einen nach dem anderen, während die Angeketteten das Ganze hilflos in den Becken mit ansehen mussten. Nach jedem dieser Morde kam er in das Gewölbe zurück, um sich das Flehen seiner Gefangenen anzuhören, doch wie sehr sie auch schrien und weinten und um Erbarmen bettelten, er verschonte keinen Einzigen. Zum Schluss, wenn alle tot waren, schleifte er die Verzweifelten in seine tiefsten, dunkelsten Verliese und ließ sie dort schmachten, bis sie vor Kummer und Einsamkeit wahnsinnig wurden.
    Ob kleine oder große Übeltaten, der Krumme Mann setzte sie alle nach Lust und Laune ein. Dank seines Tunnelnetzes und des Beckengewölbes wusste er mehr über seine Welt als jeder andere, und dieses Wissen gab ihm die nötige Macht, um heimlich über das Königreich zu herrschen. Und die ganze Zeit über schlich er auch durch die Schatten einer anderen Welt, unserer Welt, machte aus Jungen und Mädchen Könige und Königinnen und band sie an sich, indem er ihre Seele zerstörte und sie zwang, andere Kinder zu verraten, die sie hätten beschützen sollen. Denjenigen, die aufmüpfig gegen ihn wurden (denn die meisten, wie auch Jonathan Tulvey, begriffen sehr bald,

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