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Das Buch der verlorenen Dinge

Das Buch der verlorenen Dinge

Titel: Das Buch der verlorenen Dinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Connolly
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zusehends schwächer. Sein Körper brach zusammen. Die Zähne fielen ihm aus, und seine Lippen waren aufgesprungen. Blut tropfte von seinen verformten Fingernägeln, und seine Augen waren gelb und trübe. Seine Haut schuppte sich vor Trockenheit, und wenn er daran kratzte, öffneten sich lange, tiefe Risse, unter denen die Muskeln und Sehnen zum Vorschein kamen. Seine Gelenke schmerzten, und das Haar fiel ihm büschelweise aus. Der Tod nahte, doch der Krumme Mann verfiel nicht in Panik. In seinem langen, schreckensreichen Leben hatte es schon Momente gegeben, in denen er dem Tod noch näher gewesen war, als es so ausgesehen hatte, als hätte er sich das falsche Kind ausgesucht, als gäbe es keinen Verrat und keinen neuen König, den er auf den Thron setzen und wie eine Marionette lenken konnte. Doch letzten Endes hatte er stets einen Weg gefunden, sie ins Verderben zu locken, oder, wie er es lieber formulierte, sie dazu zu bringen, dass sie sich von selbst ins Verderben stürzten. Der Krumme Mann glaubte, dass alles Böse, das in einem Menschen lag, vom Augenblick seiner Zeugung in ihm vorhanden war, und man musste nur herausfinden, welche Form es in einem Kind annahm. David trug ebenso viel Zorn und Gekränktheit in sich wie all die anderen Kinder, denen der Krumme Mann bisher begegnet war, dennoch widerstand er seinen Angeboten. Es war Zeit für einen letzten Schachzug. Trotz all der Taten, die David vollbracht hatte, und trotz aller Tapferkeit, die er an den Tag legte, war er schließlich nur ein Junge. Er war weit weg von zu Hause, getrennt von seinem Vater und allem, was ihm vertraut war. Irgendwo in seinem Innern war er einsam und verängstigt. Wenn es dem Krummen Mann gelang, diese Angst unerträglich zu machen, würde David ihm den Namen des Kindes in seinem Haus nennen, der Krumme Mann würde weiterleben, und wenn es so weit war, würde er sich auf die Suche nach einem Ersatz für David machen. Angst war der Schlüssel. Der Krumme Mann hatte gelernt, dass die meisten Menschen angesichts des drohenden Todes zu allem bereit waren, um ihre Haut zu retten. Wenn er den Jungen dazu bringen konnte, dass er um sein Leben fürchtete, dann würde er dem Krummen Mann das Gewünschte geben.
    Und so verließ dieses seltsame, bucklige Wesen, das so alt war wie das Gedächtnis der Menschheit, sein Versteck mit dem Stundenglas und den in die Ferne blickenden Becken, den Spinnen und todbringenden Augen und verschwand in dem riesigen Tunnelnetz, das sich wie eine Bienenwabe unter seinem Reich erstreckte. Sein Weg führte ihn fort von der Burg, unter der Mauer hindurch und hinaus auf das offene Land.
    Und als er über sich das Heulen der Wölfe hörte, wusste er, dass er sein Ziel erreicht hatte.
    David mochte Anna nicht allein lassen, so schwach, wie sie wirkte. Er fürchtete, wenn er ihr den Rücken zukehrte, würde sie vielleicht ganz verschwinden. Umgekehrt freute sie sich nach all der Zeit, die sie allein in der Dunkelheit zugebracht hatte, über seine Gegenwart. Sie erzählte ihm von den endlosen Jahrzehnten mit dem Krummen Mann, von den grausigen Dingen, die er getan hatte, und den schrecklichen Qualen und Bestrafungen, die er denen zugefügt hatte, die ihm in die Quere gekommen waren. David wiederum erzählte ihr von seiner verstorbenen Mutter und von dem Haus, in dem er nun mit seinem Vater und Rose und Georgie lebte – dasselbe Haus, in dem Anna für kurze Zeit gelebt hatte, nachdem ihre Eltern gestorben waren. Das Licht des kleinen Mädchens schien heller zu werden, als sie von ihrem einstigen Zuhause hörte, und sie fragte David, wie das Haus und das Dorf jetzt aussahen und was sich seit damals verändert hatte. Er erzählte ihr auch vom Krieg und von dem großen Heer, das durch Europa marschierte und alles auf seinem Weg zerstörte.
    »Da bist du also dem einen Krieg entkommen und direkt in einem anderen gelandet«, sagte sie.
    David sah hinunter auf die Wolfskolonnen, die zielstrebig durch das Tal und über die Hügel zogen. Ihre Zahl schien sich von Minute zu Minute zu vergrößern, und die Grauen und die Schwarzen bezogen bereits rund um die Burg Stellung. Am beunruhigendsten fand David – genau wie zuvor Fletcher – ihre Ordnung und Disziplin, auch wenn er vermutete, dass es damit nicht allzu weit her war. Ohne die Loups würde sich die große Einheit auflösen, und die einzelnen Rudel würden räubernd und kämpfend in ihre Reviere zurückkehren, doch fürs Erste war es den Loups gelungen, die Natur der

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