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Das Buch der verlorenen Dinge

Das Buch der verlorenen Dinge

Titel: Das Buch der verlorenen Dinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Connolly
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verändere mich. Ich beginne mich aufzulösen.«
    David wusste nicht, was er sagen sollte, um sie zu trösten. Er suchte nach einem Versteck für sie und entschied sich nach einer Weile für eine dunkle Ecke in einem riesigen Schrank, in dem sich nichts weiter befand als ein altes Spinnennetz mit den leeren Panzern toter Insekten.
    Doch als David das Glas in den Schrank stellen wollte, schrie Anna auf. »Nein, bitte nicht«, sagte sie. »Ich war so viele Jahre allein in der Dunkelheit gefangen, und ich glaube, ich werde nicht mehr lange in dieser Welt sein. Stell mich auf die Fensterbank, damit ich hinausschauen und Bäume und Menschen sehen kann. Ich werde ganz still sein, und niemand wird auf die Idee kommen, mich hier zu suchen.«
    David öffnete eines der Fenster und sah, dass draußen ein kleiner Vorsprung mit einem schmiedeeisernen Gitter angebracht war. Das Gitter war zwar rostig und klapperte, als er es berührte, aber das Gewicht des Glasbehälters würde es schon halten. Vorsichtig stellte er ihn in die eine Ecke, und Anna stand auf und lehnte sich an das Glas.
    Zum ersten Mal, seit sie sich begegnet waren, lächelte sie. »Oh, wie schön«, sagte sie. »Sieh nur, der Fluss und die Bäume dahinter und all die Menschen. Danke, David. Genau das wollte ich gerne sehen.«
    Doch David hörte ihr nicht mehr zu, denn während sie sprach, erhob sich Geheul von den umliegenden Hügeln, und er sah schwarze und weiße und graue Gestalten durch die Landschaft ziehen, Tausende und Abertausende von ihnen. Die Wolfsrudel strahlten eine Disziplin und Zielstrebigkeit aus, als wären es Regimenter einer Armee, die sich auf die Schlacht vorbereiteten. Auf dem höchsten Punkt, der die Burg überragte, standen bekleidete Gestalten, auf die Hinterbeine erhoben, während weitere Wölfe zwischen den Loups und den Tieren an der Front hin und her liefen und Nachrichten überbrachten.
    »Was ist da los?«, fragte Anna.
    »Die Wölfe sind gekommen«, sagte David. »Sie wollen den König töten und die Herrschaft übernehmen.«
    »Sie wollen Jonathan töten?«, rief Anna, und in ihrer Stimme lag solches Entsetzen, dass David seine Aufmerksamkeit wieder der schwachen, kleinen Gestalt des Mädchens zuwandte.
    »Warum machst du dir solche Sorgen um ihn, nach allem, was er dir angetan hat?«, fragte er. »Er hat dich verraten und zugelassen, dass der Krumme Mann dir das Leben aussaugt und dich tief unter der Erde in einem Glasbehälter vergammeln lässt. Wie kannst du etwas anderes als Hass für ihn empfinden?«
    Anna schüttelte den Kopf, und für einen Moment wirkte sie viel älter. Sie besaß zwar die Gestalt eines Mädchens, aber sie hatte sehr viel länger existiert, als ihr Äußeres vermuten ließ, und in dem dunklen Verlies hatte sie Weisheit erworben und Toleranz und Vergebung gelernt.
    »Er ist mein Bruder«, sagte sie. »Ich liebe ihn, ganz gleich, was er mir angetan hat. Er war jung und wütend und töricht, als er sich auf den Handel eingelassen hat, und wenn er die Zeit zurückdrehen und alles, was geschehen ist, rückgängig machen könnte, würde er es tun. Ich will nicht, dass ihm etwas Böses widerfährt. Und was wird aus den ganzen Menschen dort unten, wenn die Wölfe siegen und die Herrschaft übernehmen? Sie werden jedes lebende Wesen innerhalb dieser Mauern zerfetzen und das wenige Gute, das hier noch existiert, auslöschen.«
    Während er ihr zuhörte, fragte David sich erneut, wie Jonathan es fertiggebracht hatte, dieses Mädchen zu verraten. Er musste so wütend und so traurig gewesen sein, dass er nichts anderes mehr wahrgenommen hatte.
    David sah zu, wie die Wölfe sich versammelten, alle mit nur einem Ziel: die Burg einzunehmen und den König und seine Anhänger zu töten. Aber die Mauern waren dick und stark, und die Tore waren fest verschlossen. Wachen standen an den stinkenden Löchern, wo der Abfall aus der Burg geworfen wurde, und jedes Dach und jedes Fenster war mit bewaffneten Männern besetzt. Die Wölfe waren ihnen zahlenmäßig weit überlegen, aber sie waren dort draußen, und David sah keine Möglichkeit, wie sie hereinkommen sollten. Solange das so blieb, konnten die Wölfe heulen, so viel sie wollten, und die Loups konnten so viele Nachrichten schicken und empfangen, wie es ihnen gefiel. Die Burg würde uneinnehmbar bleiben.

30
    Vom Verrat des Krummen Mannes
     
     
     
    Tief unter der Erde sah der Krumme Mann zu, wie die Sandkörner seines Lebens eines nach dem anderen dahinrieselten. Er wurde

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