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Das Buch der verlorenen Dinge

Das Buch der verlorenen Dinge

Titel: Das Buch der verlorenen Dinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Connolly
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Schule funktionierten die Regeln nicht. Sie waren schwieriger einzuhalten, weil die Schule ihre eigenen Regeln und Gesetze hatte. David hatte versucht, sie als Ersatz zu nehmen, doch es war nicht dasselbe. Nun hatte seine Mutter dafür bezahlen müssen.
    Erst da, als ihn die Scham seines Versagens überkam, fing David an zu weinen.
    Die folgenden Tage waren ein verschwommenes Durcheinander von Nachbarn und Verwandten, von großen, fremden Männern, die ihm übers Haar strichen und ihm einen Shilling gaben, und dicken Frauen in dunklen Kleidern, die David schluchzend an ihre Brust drückten und seine Sinne mit dem Geruch von Parfüm und Mottenkugeln betäubten. Er blieb bis spät abends auf, in eine Ecke des Wohnzimmers gekauert, während die Erwachsenen sich Geschichten von einer Mutter erzählten, die er so nicht kannte, einem fremden Wesen mit einer Geschichte, die vollkommen getrennt war von seiner eigenen: einem Kind, das sich geweigert hatte zu weinen, als seine ältere Schwester starb, weil es nicht glauben wollte, dass jemand, der ihm so viel bedeutete, einfach für immer verschwinden und nie wiederkommen würde; einem jungen Mädchen, das für einen Tag von zu Hause weggelaufen war, weil ihr Vater, aufgebracht wegen irgendeines unbedeutenden Vergehens, gedroht hatte, er werde sie zu den Zigeunern geben; einer schönen Frau in einem leuchtend roten Kleid, die Davids Vater einem anderen Mann vor der Nase weggeschnappt hatte; einer Traumgestalt in Weiß, die sich an ihrem Hochzeitstag den Daumen an einer Rose gestochen und den Blutfleck auf dem Kleid gelassen hatte, sodass ihn alle deutlich sehen konnten.
    Und als er schließlich einschlief, träumte David, er sei ein Teil dieser Geschichten und bei jedem Lebensabschnitt seiner Mutter dabei gewesen. Er wäre nicht länger ein Kind, das Geschichten aus einer anderen Zeit hörte, sondern ein Augenzeuge.
     
     
    David sah seine Mutter zum letzten Mal im Beerdigungsinstitut, bevor der Sarg geschlossen wurde. Sie sah anders aus und doch wie immer. Sie wirkte mehr wie früher, bevor die Krankheit gekommen war. Sie war geschminkt, wie sonntags, wenn sie zur Kirche gegangen war oder wenn Davids Vater sie zum Essen oder ins Kino ausgeführt hatte. Sie trug ihr blaues Lieblingskleid, und ihre Hände waren über dem Bauch gefaltet. Ein Rosenkranz schlängelte sich um ihre Finger, aber die Ringe waren entfernt worden. Ihre Lippen waren sehr rot. David stand neben ihr und berührte vorsichtig ihre Hand. Sie fühlte sich kalt und feucht an.
    Sein Vater trat neben ihn. Sie waren allein in dem Raum, alle anderen waren hinausgegangen. Draußen wartete ein Wagen, der David und seinen Vater zur Kirche bringen würde. Er war groß und schwarz. Der Mann, der ihn fuhr, trug eine Schirmmütze und lächelte nie.
    »Du kannst ihr einen Abschiedskuss geben, mein Junge«, sagte sein Vater. David sah zu ihm hoch. Die Augen seines Vaters waren feucht und gerötet. An dem ersten Tag hatte er geweint, als David aus der Schule nach Hause gekommen war und er ihn in die Arme genommen und ihm versprochen hatte, dass alles gut werden würde, aber danach nicht mehr, bis jetzt. David sah zu, wie seinem Vater eine große Träne aus dem Auge quoll und langsam, beinahe verschämt, an seiner Wange hinunterrann. Dann wandte er sich wieder zu seiner Mutter. Er beugte sich über den Sarg und gab ihr einen Kuss. Sie roch nach Chemie und etwas anderem, worüber David lieber nicht nachdenken wollte. Er konnte es auf ihren Lippen schmecken.
    »Leb wohl, Mama«, flüsterte er. Seine Augen brannten. Er wollte etwas tun, wusste aber nicht, was.
    Sein Vater legte ihm die Hand auf die Schulter, dann beugte er sich hinunter und küsste Davids Mutter sanft auf den Mund. Er schmiegte seine Wange an ihre und flüsterte etwas, das David nicht verstand. Dann gingen sie, und als der Sarg vom Bestatter und seinen Gehilfen hinausgetragen wurde, war er geschlossen, und das Einzige, was darauf hinwies, dass Davids Mutter darin lag, war die kleine Metallplatte auf dem Deckel mit ihrem Namen und ihrem Geburts- und Todestag.
    Sie ließen sie über Nacht allein in der Kirche zurück. Wenn er gekonnt hätte, wäre David bei ihr geblieben. Er fragte sich, ob sie einsam war und ob sie wusste, wo sie sich befand, ob sie bereits im Himmel war oder ob das erst passierte, wenn der Pfarrer die letzten Worte gesprochen hatte und der Sarg in die Erde gesenkt wurde. Ihm behagte die Vorstellung nicht, dass sie ganz allein dort lag,

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