Das Buch der verlorenen Dinge
Nummer Vier ihn gegen das Schienbein trat, um ihn zum Schweigen zu bringen.
»Also bleibe ich mit diesen Nichtsnutzen hier, bis mein Prinz zurückkommt«, sagte Schneewittchen. »Oder bis ein anderer Prinz auftaucht und um meine Hand anhält.«
Sie kaute ein Stückchen vom Nagel ihres kleinen Fingers ab und spuckte es ins Feuer.
»So«, sagte sie, um das Thema abzuschließen. »WO BLEIBT MEIN ABENDESSEN?!?«
Sämtliche Töpfe, Teller und Tassen in dem kleinen Haus klapperten. Staub rieselte von der Decke. David sah, wie eine Mäusefamilie fluchtartig ihr Loch verließ und durch einen Riss in der Wand verschwand.
»Ich werde immer ein bisschen laut, wenn ich Hunger habe«, sagte Schneewittchen. »Und jetzt her mit dem Kaninchen…«
Sie aßen schweigend, abgesehen von dem Schlürfen, Schmatzen, Kauen und Rülpsen, das Schneewittchen von sich gab. Sie aß wirklich unglaublich viel. Erst nagte sie ihr Kaninchen bis auf die Knochen ab, dann begann sie ohne viel Federlesens, sich vom Teller von Bruder Nummer Sechs zu bedienen. Sie verschlang einen ganzen Laib Brot und ein faustgroßes Stück stinkenden Käse. Sie leerte Krug um Krug von dem Bier, das die Zwerge im Schuppen brauten, und genehmigte sich zum Abschluss noch zwei Stücke von dem Früchtekuchen, den Bruder Nummer Eins gebacken hatte, schimpfte allerdings, als sie sich an einer Rosine ein Stück Zahn abbrach.
»Ich hab dir doch gesagt, er ist zu trocken«, flüsterte Bruder Nummer Zwei Bruder Nummer Eins zu. Bruder Nummer Eins zog eine Schmollmiene.
Als alles verputzt war, stand Schneewittchen ächzend vom Tisch auf, ließ sich in ihren Sessel am Feuer plumpsen und schlief augenblicklich ein. David half den Zwergen, den Tisch abzuräumen und das Geschirr abzuwaschen, und setzte sich dann zu ihnen in eine Ecke, wo sie alle ihre Pfeifen herausholten und anfingen zu rauchen. Der Tabak roch, als ob jemand alte, feuchte Socken verbrannte. Bruder Nummer Eins erbot sich, seine Pfeife mit David zu teilen, doch David lehnte sehr höflich ab.
»Wonach schürft ihr denn?«, fragte er.
Einige von den Zwergen fingen an zu husten, und David bemerkte, dass sie alle seinen Blicken auswichen. Nur Bruder Nummer Eins schien bereit, seine Frage zu beantworten.
»Kohle, gewissermaßen«, sagte er.
»Gewissermaßen?«
»Na ja, eine Art von Kohle. Etwas, das früher mal Kohle war, sozusagen.«
»Etwas Kohlen artiges «, ergänzte Bruder Nummer Drei hilfsbereit.
David überlegte einen Moment. »Meint ihr Diamanten?«
Augenblicklich stürzten sich alle Sieben auf ihn. Bruder Nummer Eins presste David seine kleine Hand auf den Mund und sagte: »Du darfst dieses Wort hier drinnen nicht aussprechen. Niemals.«
David nickte. Als die Zwerge sicher waren, dass er den Ernst der Situation begriffen hatte, kletterten sie wieder von ihm herunter.
»Ihr habt Schneewittchen also nichts von diesem, äh, kohlenartigen Zeug erzählt?«
»Nein«, sagte Bruder Nummer Eins. »Hat sich irgendwie nie ergeben.«
»Traut ihr ihr nicht?«
»Würdest du ihr trauen?«, fragte Bruder Nummer Drei. »Im letzten Winter, als das Essen knapp wurde, ist Bruder Nummer Vier mal davon aufgewacht, dass sie an seinem Fuß knabberte.«
Bruder Nummer Vier nickte mit ernster Miene, um zu unterstreichen, dass dies die reine Wahrheit war.
»Die Narben hab ich immer noch«, sagte er.
»Wenn sie herausbekäme, was die Mine enthält, würde sie uns jedes einzelne Steinchen abnehmen«, fuhr Bruder Nummer Drei fort. »Dann wären wir noch unterdrückter, als wir es jetzt schon sind. Und ärmer.«
David sah sich in dem kleinen Haus um. Es war nicht gerade luxuriös. Es gab nur zwei Zimmer: das, in dem sie gerade saßen, und ein Schlafzimmer, das Schneewittchen für sich beansprucht hatte. Die Zwerge schliefen alle zusammen in einem Bett neben dem Kamin, drei am einen Ende und vier am anderen.
»Wenn sie nicht wäre, könnten wir alles ein bisschen aufmöbeln«, sagte Bruder Nummer Eins. »Aber wenn wir anfingen, Geld auszugeben, würde sie misstrauisch, also müssen wir es so lassen, wie es ist. Wir können noch nicht mal ein zusätzliches Bett kaufen.«
»Aber wissen die Leute hier aus der Gegend denn nichts von der Mine? Schöpft niemand Verdacht?«
»Oh, wir sagen den Leuten natürlich, dass wir ein wenig Geld mit dem Schürfen verdienen«, sagte der Zwerg. »Gerade genug, um über die Runden zu kommen. Die Arbeit in der Mine ist hart, und keiner hat Lust, das zu machen, wenn nicht der große Reichtum
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