Das Buch der verlorenen Dinge
zu, wie seine Finger in Schneewittchens mäusespeckartiger Patschhand verschwanden.
»Ich bin David«, sagte er.
»Was für ein netter Name.« Schneewittchen drückte kichernd das Kinn an die Brust, was so viele bebende Speckfalten erzeugte, dass es aussah, als würde ihr Kopf schmelzen. »Bist du ein Prinz?«
»Nein, tut mir leid.«
Schneewittchen sah enttäuscht aus. Sie ließ Davids Hand los und versuchte, mit einem ihrer Ringe zu spielen, doch der Ring saß so fest, dass er sich nicht bewegen ließ.
»Oder ein Edelmann?«
»Nein.«
»Der Sohn eines Edelmannes, den bei seinem achtzehnten Geburtstag ein großes Erbe erwartet?«
David tat, als dächte er über die Frage nach.
»Äh, nein, auch nicht«, sagte er.
»Was bist du dann? Doch hoffentlich keiner von diesen Langweilern, die sie immer anschleppen, um über Arbeiter und Unterdrückung zu reden, oder? Ich habe sie gewarnt: Kein Geschwafel über Revolutionen, solange ich nicht mein Abendessen gehabt habe.«
»Aber wir werden unterdrückt«, protestierte Bruder Nummer Eins.
»Natürlich werdet ihr unterdrückt!«, sagte Schneewittchen. »Ihr seid doch nicht mal einen Meter groß. Und jetzt seht zu, dass ihr das Essen fertig kriegt, bevor ich meine gute Laune verliere. Und zieht eure Stiefel aus. Ich will nicht, dass ihr mir den blitzblanken Boden versaut. Ihr habt ihn schließlich erst gestern geputzt.«
Gehorsam zogen die Zwerge ihre Stiefel aus und stellten sie zusammen mit ihrem Werkzeug neben die Tür. Dann reihten sie sich vor dem kleinen Waschbecken auf, um sich die Hände zu waschen, bevor sie das Essen zubereiteten. Sie schnitten Brot und Gemüse, während zwei Kaninchen über dem offenen Feuer brieten. Bei dem Duft lief David das Wasser im Munde zusammen.
»Ich nehme an, du willst auch was essen, oder?«, sagte Schneewittchen zu David.
»Ich bin ziemlich hungrig«, gab David zu.
»Nun, du kannst dir was von ihrem Kaninchen nehmen. Von meinem kriegst du jedenfalls nichts.«
Schneewittchen ließ sich in einen großen Sessel vor dem Kamin fallen. Sie blies die Wangen auf und seufzte vernehmlich.
»Ich hasse es hier«, stellte sie fest. »Es ist so langweilig.«
»Warum gehst du nicht einfach?«, fragte David.
»Gehen? Wohin denn?«
»Hast du kein Zuhause?«
»Mein Paps und meine Stiefmutter sind weggezogen. Sie sagen, ihr Haus ist zu klein für mich. Außerdem sind sie schrecklich langweilig, und ich langweile mich lieber hier als bei ihnen.«
»Aha.« David überlegte, ob er den Prozess und den Versuch der Zwerge, Schneewittchen zu vergiften, ansprechen sollte. Das Thema interessierte ihn sehr, aber er wusste nicht, ob das in Ordnung war. Schließlich wollte er den Zwergen ja nicht noch mehr Ärger einhandeln, als sie ohnehin schon hatten.
Doch schließlich nahm Schneewittchen ihm die Entscheidung ab. Sie beugte sich vor und flüsterte mit einer Stimme wie zwei aneinanderscharrende Felsen: »Außerdem müssen sie sich um mich kümmern. Das hat ihnen der Richter aufgebrummt, weil sie versucht haben, mich zu vergiften.«
David dachte bei sich, dass er nicht gerne mit jemandem zusammenleben würde, der schon mal versucht hatte, ihn umzubringen, aber vermutlich hatte Schneewittchen keine Angst, dass die Zwerge es noch ein zweites Mal versuchen würden, schließlich drohte ihnen dann die Hinrichtung. Doch ein Blick auf das Gesicht von Bruder Nummer Eins weckte in David den Verdacht, dass der Tod womöglich sogar das kleinere Übel war.
»Aber willst du denn nicht einen edlen Prinzen kennenlernen?«, fragte er sie.
»Ich habe schon einen edlen Prinzen kennengelernt«, sagte Schneewittchen und sah verträumt zum Fenster hinaus. »Er hat mich mit einem Kuss geweckt, aber dann musste er wieder weg, irgendeinen Drachen töten oder so. Aber er hat mir versprochen, dass er wiederkommt, sobald er damit fertig ist.«
»Hätte lieber hierbleiben und sich um unseren Drachen kümmern sollen«, brummte Bruder Nummer Drei. Schneewittchen warf mit einem Scheit nach ihm.
»Siehst du, was ich mir bieten lassen muss?«, sagte sie zu David. »Den ganzen Tag hocke ich allein hier, während sie in ihrer Mine arbeiten, und wenn sie wiederkommen, muss ich mir ihr Gemecker anhören. Ich kapiere nicht, warum sie überhaupt in dieser dämlichen Mine schuften. Sie finden doch nie was!«
David sah, wie die Zwerge sich Blicke zuwarfen, als sie Schneewittchens Worte hörten. Er meinte sogar, ein verstohlenes Kichern von Bruder Nummer Drei zu hören, bis Bruder
Weitere Kostenlose Bücher