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Das Buch der verlorenen Dinge

Das Buch der verlorenen Dinge

Titel: Das Buch der verlorenen Dinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Connolly
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Bärenhütte geflohen und nie wieder dorthin zurückgekehrt.«
    Er verstummte. Die Zwerge sahen ihn an, als wäre er schwer von Begriff.
    »Äh, ist sie nicht?«, fragte er.
    »Sie war ganz verrückt nach ihrem Brei«, sagte Bruder Nummer Eins verschwörerisch, als verrate er David ein großes Geheimnis. »Hat ihnen ständig die Teller leer gefuttert. Nach einer Weile hatten die Bären die Nase voll von ihr, na ja, und damit hatte es sich. ›Sie floh aus der Bärenhütte und kehrte nie wieder dorthin zurück.‹ Dass ich nicht lache!«
    »Du meinst… sie haben sie getötet?«, fragte David.
    »Sie haben sie gefressen«, sagte Bruder Nummer Eins. »Zusammen mit dem Brei. Das bedeutet ›floh und kehrte nie wieder dorthin zurück‹ hierzulande. Es bedeutet, ›gefressen‹.«
    »Hm, und was ist mit ›glücklich bis an ihr Ende‹?«, fragte David ein wenig verunsichert. »Was bedeutet das?«
    »Schnell gefressen«, sagte Bruder Nummer Eins.
    Und damit waren sie bei dem Haus der Zwerge angekommen.

14
    Von Schneewittchen,
    die ausgesprochen unfreundlich ist
     
     
     
    »Das wurde aber auch Zeit!«
    Davids Trommelfelle erbebten, als Genosse Bruder Nummer Eins die Haustür öffnete. Ängstlich rief der Zwerg: »Kuckuck, wir sind wieder da!«, in dem singenden Tonfall, den Davids Vater manchmal benutzt hatte, wenn er spät abends aus der Kneipe zurückkam und wusste, dass es Ärger geben würde.
    »Tu nicht so unschuldig«, tönte es von drinnen. »Wo wart ihr? Ich hab Hunger. Mein Magen fühlt sich an wie ein leeres Fass.«
    So eine Stimme hatte David noch nie gehört. Es war die Stimme einer Frau, aber sie war zugleich tief und hoch, wie die riesigen Gräben, die angeblich am Boden des Meeres lagen, nur nicht so nass.
    »Und er knurrt, als wär ein Wolf darin«, sagte die Stimme. »Hier, willst du mal hören?«
    Eine große weiße Hand kam aus dem Türspalt, packte Bruder Nummer Eins am Schlafittchen und zerrte ihn ins Haus.
    »Hmhm«, sagte Bruder Nummer Eins nach einer Weile. Seine Stimme klang etwas gedämpft. »Jepf hör ich eff auch.«
    David ließ die anderen Zwerge vorgehen. Sie betraten das Haus wie Sträflinge, denen man gerade mitgeteilt hatte, dass der Henker ein wenig Zeit übrig hatte und noch ein paar Hinrichtungen einschieben konnte, bevor er zum Abendessen nach Hause ging. David betrachtete nachdenklich den dunklen Wald um ihn herum und überlegte, ob er nicht doch lieber draußen bleiben sollte.
    »Tür zu!«, sagte die Stimme. »Ich frier mir hier drinnen den Arsch ab.«
    Schicksalsergeben trat David in das Haus und schloss die Tür fest hinter sich.
    Vor ihm stand die größte und dickste Frau, die er je gesehen hatte. Ihr Gesicht war mit weißem Make-up zugekleistert. Sie hatte schwarzes Haar, das mit einem bunten Stoffband zusammengebunden war, und ihre Lippen waren dunkelrot geschminkt. Das rosafarbene Kleid, das sie trug, hätte sich auch als Zirkuszelt verwenden lassen. Bruder Nummer Eins war fest dagegen gepresst, damit er die seltsamen Geräusche besser hören konnte, die der gewaltige Bauch darunter von sich gab. Seine kleinen Füße hingen kurz über dem Boden in der Luft. Das Kleid war mit so vielen Bändern und Knöpfen und Schleifen versehen, dass David sich fragte, wie die Frau den Überblick behalten konnte, welche davon zum An- und Ausziehen waren und welche nur Dekoration. Sie hatte die Füße in seidene Pantoffeln gezwängt, die mindestens drei Nummern zu klein waren, und die Ringe an ihren Fingern versanken fast im Fleisch.
    »Wer ist das denn?«, fragte sie.
    »Daf if ein Freund«, sagte Bruder Nummer Eins.
    »Ein Freund?«, fragte die Frau und ließ Bruder Nummer Eins fallen wie ein Spielzeug, an dem sie das Interesse verloren hatte. »Warum habt ihr denn nicht gesagt, dass ihr Besuch mitbringt?« Sie strich sich übers Haar und entblößte mit einem Lächeln die lippenstiftbeschmierten Zähne. »Dann hätte ich mir doch was anderes angezogen und mich ein bisschen zurechtgemacht.«
    David hörte, wie Bruder Nummer Drei Bruder Nummer Acht etwas zuflüsterte, worin die Worte »egal was« und »Verbesserung« vorkamen, und obwohl der Zwerg wirklich sehr leise sprach, bekam die Frau es mit und verpasste Bruder Nummer Drei eine Kopfnuss.
    »Pass bloß auf«, sagte sie. »Frechdachs.«
    Dann hielt sie David ihre große, bleiche Hand hin und machte einen Knicks.
    »Schneewittchen«, sagte sie. »Sehr erfreut, deine Bekanntschaft zu machen.«
    David gab ihr die Hand und sah beunruhigt

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