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Das Buch der verschollenen Geschichten - Teil 1 & Teil 2

Das Buch der verschollenen Geschichten - Teil 1 & Teil 2

Titel: Das Buch der verschollenen Geschichten - Teil 1 & Teil 2 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.R.R. Tolkien
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befand, sang sie ein Lied vom Wachsen, und als es sich in der Silberschale befand, sang sie ein zweites Lied, und die Namen der größten und längsten Dinge auf Erden waren in dieses Lied verflochten: die Bärte der Indravangs, der Schwanz von Karkaras, der Leib von Glorund, der Stamm von Hirilorn und das Schwert von Nan. Diese alle nannte sie, und sie vergaß auch nicht die Kette Angainu, die Aule und Tulkas machten, oder den Hals von Gilim, dem Riesen, und zuletzt sprach sie vom Längsten überhaupt, dem Haar von Uinen, der Gebieterin des Meers, das sich durch alle Wasser zieht. Darauf wusch sie ihr Haar mit dem Gemisch aus Wasser und Wein, und während sie das tat, sang sie ein drittes Lied, ein Lied vom tiefsten Schlaf, und Tinúviels Haar, das dunkel war und feiner als die zartesten Äderchen des Zwielichts, begann plötzlich sehr rasch zu wachsen, und als zwölf Stunden vergangen waren, füllte es beinahe den kleinen Raum, und darüber war Tinúviel sehr froh, und sie legte sich zur Ruhe nieder; und als sie erwachte, war der Raum wie von einem schwarzen Nebel erfüllt, unter dem sie tief begraben war, und siehe, ihr Haar ringelte sich aus den Fenstern und wehte in der Morgenbrise um die drei Stämme. Da suchte sie mühsam ihre kleine Schere hervor und schnitt die Strähnen dieser Pracht dicht am Kopf ab, und danach wuchs ihr Haar nur noch, wie es gewöhnlich zu wachsen pflegte.
    Dann nahm die Arbeit Tinúviels ihren Anfang, und wenngleich sie mit der Gewandtheit der Elben arbeitete, währte dasSpinnen lange, und noch länger das Weben, und wenn jemand kam und sie von unten grüßte, bat sie ihn zu gehen und sagte: ›Ich liege zu Bett und will bloß schlafen.‹ Und Dairon war sehr verwundert und rief oft zu ihr hinauf, doch sie antwortete nicht.
    Aus diesem wolkigen Haargespinst wob nun Tinúviel ein Gewand von dunstigem Schwarz, durchtränkt von Schläfrigkeit, die von größerer Zauberkraft war als selbst die des Gewandes, in dem ihre Mutter, lange, lange bevor die Sonne aufstieg, getanzt hatte, und damit verhüllte sie ihre Kleider von schimmerndem Weiß, und ringsum schwebten zaubrische Schlummer durch die Lüfte; aber aus dem Haar, das übrig blieb, drehte sie einen kräftigen Strang, und diesen befestigte sie im Inneren ihres Hauses am Baumstamm, und dann war ihre Arbeit getan, und sie hielt aus ihren Fenstern Ausschau und blickte nach Westen zum Fluss. Das Sonnenlicht zwischen den Bäumen wurde bereits schwächer, und als Dämmerung die Wälder erfüllte, begann sie sehr zart und leise ein Lied zu singen, und währenddessen warf sie ihr langes Haar aus dem Fenster, so dass sein einschläferndes Gespinst die Köpfe und Gesichter der Wachen am Fuße des Baumes berührte, und während sie ihrem Lied lauschten, fielen sie unversehens in einen bodenlosen Schlaf. Da kleidete sich Tinúviel in ihr Gewand aus Dunkelheit, glitt behende wie ein Eichhörnchen an dem Seil aus Haar hinunter und tanzte fort zur Brücke, und bevor die Brückenwachen einen Ruf ausstoßen konnten, war sie tanzend mitten unter ihnen; und als der Saum ihres schwarzen Gewandes sie berührte, fielen sie in Schlaf, und Tinúviel eilte weit, weit davon, so rasch ihre tanzenden Füße sie trugen.
    Als nun die Nachricht von der Flucht Tinúviels König Tinwelint zu Ohren kam, war sein Zorn, gemischt mit Kummer, gewaltig, sein ganzer Hof war in Aufregung, und dieWälder widerhallten vom Lärm der Suchtrupps, doch Tinúviel war schon weit fort und näherte sich den düsteren Vorbergen, wo die Gebirge der Nacht beginnen; und es heißt, dass die Spur von Dairon, der ihr folgte, sich gänzlich verlor und er niemals mehr nach Elbenheim zurückkehrte, sondern sich nach Palisor wandte, wo er noch immer feinsinnige, zaubrische Melodien spielt 6 , sehnsüchtig und einsam in den Wäldern und Forsten des Südens.
    Tinúviel jedoch war noch nicht lange unterwegs, als sie plötzlich Furcht befiel, wenn sie daran dachte, was zu tun sie gewagt hatte und was noch vor ihr lag; dann hielt sie eine Weile inne, weinte und wünschte, Dairon wäre bei ihr, und es heißt, dass er in der Tat nicht weit von ihr entfernt war, sondern zwischen den großen Kiefern des Waldes der Nacht umherirrte, wo später Túrin Beleg erschlug, den er für einen Feind hielt. 7 Diesen Orten war Tinúviel nun sehr nahe, doch sie betrat jene dunklen Gefilde nicht, fasste neuen Mut und verfolgte ihren Weg; und weil ihr Wesen zaubrischer war und ein Bann des Wunders und des Schlafs sie

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