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Das Buch der verschollenen Geschichten - Teil 1 & Teil 2

Das Buch der verschollenen Geschichten - Teil 1 & Teil 2

Titel: Das Buch der verschollenen Geschichten - Teil 1 & Teil 2 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.R.R. Tolkien
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Tinwelint das hörte, beschied er Tinúviel zu sich und sagte: ›Warum, o mein Mädchen, entsagst du nicht dieser Torheit und versuchst meinem Befehl zu gehorchen?‹ Aber Tinúviel wollte nicht antworten, und der König befahl ihr, zu geloben, dass sie weder fürderhin an Beren denken, noch in ihrer Torheit versuchen werde, ihm in die Lande des Bösen nachzufolgen, sei es allein oder sei es in der Begleitung eines seiner Untertanen, den sie dazu verführe. Tinúviel jedoch erwiderte, dass sie das Erstere nicht versprechen wolle und das Zweite nur zum Teil, denn sie wolle niemanden aus dem Volk der Wälder dazu verleiten, mit ihr zu gehen.
    Darauf wurde ihr Vater über die Maßen zornig, doch insgeheim war er nicht wenig verwundert und besorgt, denn er liebte Tinúviel; da er jedoch seine Tochter nicht auf immer in den Höhlen einsperren mochte, wo fortwährend bloß ein trübes, flackerndes Licht herrschte, fasste er folgenden Plan: Oberhalb der Eingänge zu seinen unterirdischen Hallen war ein steiler Abhang, der zum Fluss abfiel, und dort wuchsen mächtige Buchen; und darunter war eine mit Namen Hirilorn, Königin der Bäume, denn sie war von gewaltigem Ausmaß, und so tief gespalten war ihr Stamm, dass es schien, als entwüchsen drei Säulen dem Grund; und diese waren gleich groß, rund und gerade gewachsen, ihre Rinde war seidenglatt und bis zu einer erklecklichen Höhe ragten sie auf, ohne dass ein Ast oder ein Zweig ihnen entspross.
    Nun ließ Tinwelint hoch oben in diesem merkwürdigen Baum, so hoch, wie Menschen eben mit ihren längsten Leitern hinaufreichen konnten, eine kleine Hütte aus Holz erbauen, und sie ruhte auf den untersten Zweigen und war liebreizend von Blattwerk umhüllt. Dieses Haus hatte nun drei Ecken und in jeder Wand drei Fenster, und die drei Säulen von Hirilorn bildeten die Ecken. Dort, so befahl er, solle Tinúviel wohnen, bis sie sich bereit erkläre, vernünftig zu sein; und nachdem sie über Leitern aus hohen Kieferstämmen hinaufgestiegen war, wurden diese von unten fortgenommen, und sie hatte keine Möglichkeit mehr, wieder auf den Boden zu gelangen. Alles, was sie brauchte, wurde ihr gebracht, Leute stiegen auf den Leitern zu ihr hinauf und brachten ihr Nahrung oder wonachsie sonst verlangte, und der König bedrohte jeden mit der Todesstrafe, der eine Leiter fortzunehmen vergaß oder nächtens heimlich versuchte, sie an den Baum zu lehnen. Darum wurde am Fuß des Baumes eine Wache aufgestellt; und doch kam Dairon oft dorthin, betrübt über das, was er angerichtet hatte, denn ohne Tinúviel fühlte er sich einsam; Tinúviel jedoch hatte zu Anfang viel Freude an ihrem Haus zwischen den Blättern, und sie blickte durch ihre kleinen Fenster, während unten Dairon seine lieblichsten Melodien spielte.
    Aber eines Nachts kam ein Traum der Valar über Tinúviel, und sie träumte von Beren, und ihr Herz sprach: ›Ich will ihn suchen gehen, ihn, den alle anderen vergessen haben‹; und als sie erwachte, schien der Mond durch die Blätter, und sie sann tief darüber nach, wie sie entfliehen könne. Nun war Tinúviel, die Tochter Gwendelings, nicht unerfahren in Magie und Zauberei, wie man sich wohl denken kann, und nach langem Sinnen schmiedete sie einen Plan. Am nächsten Tag bat sie jene, die zu ihr kamen, ihr ein wenig von dem klarsten Wasser des Flusses zu bringen. ›Dieses Wasser aber‹, sagte sie, ›muss um Mitternacht in einer silbernen Schale geschöpft und mir gebracht werden, ohne dass ein Wort gesprochen wird.‹ Und darauf verlangte sie, dass ihr Wein gebracht werde. ›Dieser aber‹, sagte sie, ›muss zur Mittagszeit in einem goldenen Krug herbeigetragen werden, und der Überbringer muss singen, wenn er kommt.‹ Und man tat, wie geheißen, doch Tinwelint erfuhr nichts davon.
    Darauf sagte Tinúviel: ›Geht nun zu meiner Mutter und sagt ihr, dass ihre Tochter ein Spinnrad wünscht, um sich die müßigen Stunden zu verkürzen.‹ Dairon aber bat sie insgeheim, ihr einen winzigen Webstuhl zu verfertigen, und er machte einen, der für ihr Haus im Baum nicht zu groß war. ›Womit willst du aber spinnen und weben?‹, fragte er; undTinúviel erwiderte: ›Mit Zaubersprüchen und Wunderkräften.‹ Doch Dairon wusste nichts von ihrem Plan, und auch dem König oder Gwendeling erzählte er nichts.
    Als sie nun ungestört war, nahm Tinúviel Wasser und Wein, und während sie wirksame Zauberworte sang, vermischte sie beides miteinander, und als sich das Gemisch im goldenen Krug

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