Das Buch der verschollenen Geschichten - Teil 1 & Teil 2
strahlender Mond auf, und Tamar, der oft allein und fern der Siedlungen des Waldvolkes umherwanderte und diese Gegend kannte, kam schließlich zum Rand der Verwüstung, die der Drache in seinem Todeskampf angerichtet hatte; weil aber nun das Mondlicht sehr hell war und Tamar am Rand dieses Fleckens im Buschwerk stand, sah und hörte er alles, was dort geschah.
So vernehmt denn, dass Níniel diesen Ort kurz vor ihm erreicht hatte, und die Liebe zu ihrem Gemahl trieb sie furchtlos geradewegs auf die Lichtung, und so fand sie ihn, ohnmächtig daliegend und mit verdorrter Hand über seinem Schwert; doch das Untier, das massig ausgestreckt neben ihm lag, beachtete sie überhaupt nicht, sondern sank neben Turambar nieder, weinte, küsste sein Gesicht und strich Salbe auf seine Hand, denn diese trug sie seit ihrem Aufbruch in einem Kästchen bei sich, da sie fürchtete, dass viele Wunden empfangen werden würden, bevor die Männer heimkehrten. Als jedoch Turambar sich unter ihren Händen nicht rührte und nicht erwachte, schrie sie laut auf, denn sie glaubte ihn nun gewisslich tot: ›O Turambar, mein Gebieter, wach auf, denn die Ausgeburt des Zorns ist tot, und ich bin allein in deiner Nähe!‹ Doch hört, bei diesen Worten regte sich der Drache zum letzten Mal, und er richtete seine hasserfüllten Augen auf sie, bevor er sie für immer schloss, und sagte: ›O du Nienóri, Tochter von Mavwin, ich verkünde dir die Freude, dass du am Ende deinen Bruder gefunden hast, denn beschwerlich ist die Suche gewesen – und nun ist er sehr mächtig geworden und ein Werkzeug seiner unsichtbaren Feinde‹; jedoch Nienóri saß da wie eine Gelähmte, und so starb Glorund, und mit seinem Tod fiel der Mantel seines Zauberbannes ab von ihr, und ihr Gedächtnis wurde hell wie Kristall, und an alles konnte sie sich erinnern, was ihr widerfahren war, seit sie erstmals unter den Zauber des Drachen geraten war; da zitterte sie am ganzen Leibe vor Grauen und Qual. Darauf sprang sie auf, stand fahl im Mondlicht, und mit weit geöffneten Augen auf Turambar blickend sprach sie laut die Worte: ›Nun hat sich dein Schicksal am Ende erfüllt. Wohl dir, dass du tot bist, o unglücklichster Mann!‹ Doch plötzlich, rasend vor Schmerz, floh sie diesen Ort und rannte wie eine Besessene blindlings davon, wohin ihre Füße sie trugen.
Tamar jedoch, betäubt von Gram und Mitleid, folgte ihr und bekümmerte sich wenig um Turambar, denn der Zorn über Nienóris Geschick erfüllte sein Herz zu sehr. Der Fluss und die tiefe Schlucht lagen nun auf ihrem Weg, doch es fügte sich, dass sie sich seitlich wandte, bevor sie zu ihren steilen Wänden kam; und sie folgte ihrem gewundenen Lauf über Steine und durch Dornen, bis sie abermals zu dem freien Platz oberhalb des gewaltigen tosenden Falles kam, und dieser war ausgestorben, während das erste graue Licht eines neuen Tages durch die Bäume sickerte.
Dort zügelte sie ihren Lauf, blieb stehen und sprach zu sich selbst: ›O Wasser des Waldes, wohin geht euer Lauf? Wollt ihr Nienóri zu euch nehmen, Nienóri, die Tochter von Úrin, das Kind des Leides? O du weiße Gischt, mögest du mich reinwaschen – doch tief, tief müssen die Wasser sein, meine Erinnerung an diesen namenlosen Fluch zu ertränken. Oh, tragt mich von hinnen, weit, weit fort zu den Wassern im Meer des Vergessens. O Wasser des Waldes, wohin geht euer Lauf?‹ Dann verstummte sie plötzlich, warf sich über den Rand des Wasserfalls, und tief unten, wo die Wasser um die Felsen schäumten, hauchte sie ihr Leben aus; in diesem Augenblick aber stieg die Sonne über den Bäumen auf, und Licht fiel auf die Wasser, und diese, unbekümmert um Nienóris Tod, brausten weiter.
Dies alles sah nun Tamar mit an, und ihm schien das Licht der neuen Sonne dunkel, und er verließ diesen Ort und ging zur Spitze des Hügels, wo bereits eine große Menge Volk zusammengelaufen war, darunter auch jene drei, die Turambar am Schluss im Stich gelassen hatten und die nun eine Geschichte für die Ohren der Leute erfanden. Doch Tamar kam näher, stand plötzlich vor ihnen, und sein Antlitz war so furchtbar anzuschauen, dass ein Raunen durch die Menge ging: ›Er ist tot!‹ Andere sagten: ›Was mag der kleinenNíniel zugestoßen sein?‹ Doch Tamar rief laut: ›Höre, mein Volk, o Männer und Frauen, sagt, ob euch ein Schicksal bekannt, das jenem gleicht, von dem ich euch berichten werde, oder ein Leid, so schwer wie dieses. Tot ist der Drache, doch ihm zur Seite
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