Das Buch der verschollenen Geschichten - Teil 1 & Teil 2
Dunkels fahren
Des Himmels große Galeeren,
Und schmücken die Nacht mit Segeln aus Licht,
Wenn den wandelnden Stern sie queren.
Er zieht an den blinkenden Schiffen vorbei,
Unbeirrt, von unbänd’ger Reiselust gequält,
Auf endloser Fahrt durch den dämmrigen Westen
Bis über den Rand der Welt;
Und er durcheilt voll Unrast die blitzende Weite
Und das Dunkel, aus dem er stammt,
Das Herz erfüllt von heißem Verlangen
Und das Antlitz silbern umflammt.
Das Schiff des Mondes naht rasch von Osten
Vom Hafen, wo die Sonne wohnt,
Dessen weiße Tore im kommenden Strahl erglänzen,
Wenn riesig kommt der Mond.
Sieh! Schwellende Wolkensegel gehisst,
Lichtet er den Anker, wo tief es dämmert,
Und mit schimmernden Rudern verlässt er die Flammenufer
In der Barke, aus Silber gehämmert.
Da wich Earendel vor dieses Schiffers Schrecken,
Hinaus aus der dunklen Erde Feld
Unter den Rand zurück des trüben Meers,
Und setzte Segel hinter der Welt;
Und er vernahm den Frohsinn des Erdenvolks,
Und hörte die Tränen fallen,
Als die Welt in Wolkentrümmern versank
Auf seiner langen Fahrt durch der Zeiten Hallen.
Dann zog er schimmernd durch die sternlose Weite
Wie ein einsames Licht auf dem Meer
Und, unsichtbar für sterbliche Menschen,
Zog er einsam kreuz und quer,
Folgt in seiner Galeone der Sonne Spur
Durch das weglose Firmament,
Bis in kalten Tiefen sein Licht sich mindert
Und seine heiße Flamme nicht mehr brennt.
Es gibt genügend Gründe anzunehmen, dass dieses Gedicht allen Abrissen und Notizen vorausging, und wörtliche Ähnlichkeiten in ihnen kann man für Anklänge an das Gedicht halten (z.B. sein »Antlitz silbern umflammt«, vgl. C, S. 385; »Er segelt über den Rand der Welt«, vgl. Abriss E, S. 393).
In der vierten Strophe kommt das Schiff des Mondes aus dem Hafen der Sonne; in der Geschichte Die Verhüllung von Valinor (Teil 1, S. 349) bauten Aule und Ulmo im Osten zwei Häfen, den der Sonne (»weiträumig und golden«) und den des Mondes (»er war weiß und hatte Tore aus Silber und Perlen«) – doch in den Hafen der Sonne wurde der des Mondes »hineingesetzt«. Wie im Gedicht wird auch in der Geschichte von Sonne und Mond (Teil 1, S. 317) der Mond von »schimmernden Rudern« bewegt.
II.Die Bitte an den Sänger
Dieses Gedicht wurde im Winter 1914 in Oxford geschrieben (vgl. Teil 1, S. 50f.). Seine frühesten Ausarbeitungen existieren noch, und auf der Rückseite eines dieser Blätter findet sich der Abriss von S. 392f. Das ursprünglich erheblich längere Gedicht erhielt schließlich den Titel: »Die Bitte an den Sänger, aus dem Lied von Earendel«.
Es gibt vier Versionen, die sich jedoch nur leicht unterscheiden. Hier folgt die letzte Fassung, zu der ich nur bemerke, dass der Sänger in der ursprünglichen Form der Bitte eher entsprochen zu haben scheint.
»Singe uns mehr noch von Earendel, dem Wanderer,
Ein Lied von seinem Schiff mit weißen Ruderbäumen,
Einem Gefährt, so voller Wunder, das nie ein andrer
Sterblicher ersann. Ein klingendes Lied aus der Tiefe schäumen.
Sing uns ein Lied vom ewig nach dem Meere Begehrenden,
Ehe das Licht sich wandelte, von den Eldar gemacht,
Einen rauschhaften Zauber verspinnend und einen verzehrenden
Durst nach Gischt und den Düften der Nacht;
Von raunendem Dämmer abends auf fernen Ozeanen;
Von seinem Schiff, verankert in rollender See an Inseln, verloren
Auf nie schlafender Wellen endloser Dünung Bahnen,
Vor gebauschten Segeln, wenn ein Wind ward geboren,
Und dem Murmeln tropischer Wasser, die nie schlafen,
Sondern wohltönend unter dem runden Kiel erklingen.
Und Tausende von Meilen war sein Schiff fern seinem Hafen,
Ein Sturmgetier, ein Seevogel, ein Edelstein mit weißen Schwingen,
Prächtig gerüstet zu maßloser Reise,
Bevor es heimkehrt, schwer und vom Meerwasser müde gemacht,
Noch verweilend und ruhelos nochmals im Kreise,
Und plötzlich dem Hafen sich nähert zur Nacht.«
»Doch jetzt sind die Töne verklungen, die Worte verhallen,
Das Sonnenlicht ist schwach, und der Mond ward so alt,
Gesunken sind der Elben Schiffe oder tangschwer verfallen,
Und die feurige Neugier der Herzen ist kalt.
Wer nun singt die Melodie, und welche Harfe untermalt sie
Mit Weisen, so sonderbar, mit Reichtum ohn’ Ende,
Getränkt vom Zauber tiefer Harmonie,
Widerhallend von der Musik der Gestade und Strände?
Wie schlank war sein Schiff, gezimmert aus schimmerndem Stoff,
Aus Silber ganz seine Segel und spitz der Mast
Und
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