Das Buch der verschollenen Geschichten - Teil 1 & Teil 2
zurückkehren dürfen, aber nur, um vier Zeitalter lang als Diener in Tulkas’ Haus zuzubringen und diesem als Entschädigung für seine einstige Bösartigkeit zu gehorchen.
›Auf diese Weise‹, sprach Manwe, ›kannst du vielleicht wieder so viel Wohlwollen erringen, dass die Götter dir gestatten, später in einem eigenen Haus zu wohnen und unter ihnen einen gewissen Rang einzunehmen, wie es einem Vala und Herrn der Ainur zukommt.‹
So lautete Manwes Spruch, und selbst Makar und Meásse erschien er rechtens, doch Tulkas und Palúrien hielten diese Güte für gefährlich. Nun brach für Valinor die schönste Zeit des Friedens an und für die übrige Erde ebenso, während Melko in den tiefsten Gewölben Mandos’ schmachtete, und in seinem Herzen brütete er schwarze Gedanken aus.
Der Aufruhr des Meeres legte sich allmählich, und die Feuer unter den Bergen erstarben; die Erde bebte nicht mehr, und die grausame Kälte, die Härte der Hügel und Flüsse aus Eis schmolz dahin, vom äußersten Norden zum tiefsten Süden, bis hin zu den Landstrichen um Ringil und Helkar. Dann schrittPalúrien ein weiteres Mal über die Erde, und die Wälder vermehrten sich und breiteten sich aus, und oft hörte man hinter ihr im trüben Licht Oromes Horn erschallen: Nun begannen Nachtschatten und Zaunrübe im Buschwerk zu wuchern, und Stechpalmen und Ilex erschienen auf der Erde. Und weil die Winde ruhten und das Meer still war, begannen sogar auf den Klippen Efeu und kriechende Pflanzen zu wachsen, alle Höhlen und Küsten schmückten sich mit Wasserpflanzen, und große Meeresgewächse traten ans Licht und bewegten sich sanft, wenn Osse die Wasser aufrührte.
Dieser Vala kam nun, setzte sich auf ein Vorgebirge der Großen Lande, pflog der Muße in der Stille seines Reiches und sah, wie Palúrien die stumme Dämmerung der Erde mit huschenden Schatten erfüllte. Fledermäuse und Eulen, die Vefántur in Mandos freigelassen hatte, durchschossen den Himmel, und am Rand stiller Wasser sangen Nachtigallen, die Lórien aus Valinor geschickt hatte. Weit in der Ferne krächzte ein Ziegenmelker, und an dunklen Plätzen bewegten sich geräuschlos die Schlangen, die aus Utumna entschlüpft waren, als Melko gefesselt worden war; am Rande eines klaren Teiches quakte ein Frosch.
Darauf gab er Ulmo Nachricht von all diesen Neuigkeiten, und dieser wollte nicht, dass die Wasser der inneren Meere länger unbevölkert wären, sondern suchte Palúrien auf, und sie gab ihm Zaubersprüche, und die Meere füllten sich mit schimmernden Fischen oder sonderbaren Lebewesen, die an ihrem Grund umherkrochen; doch keiner der Valar oder Elben wusste zu sagen, woher die Muscheln und Austern stammten, denn diese öffneten sich bereits in den stillen Wassern, oder Melko hatte sie aus der Höhe hineingeworfen; und bevor die Eldar nur an Edelsteine dachten oder von ihnen träumten, gab es dort Perlen.
Drei große Fische, die in der Dunkelheit der sonnenlosen Tage leuchteten, zogen immer mit Ulmo, und schimmerndeSchuppen bedeckten das Dach von Osses Wohnung unter dem Großen Meer. Wahrlich, das war eine Zeit voller Frieden und Ruhe, und das Leben senkte tiefe Wurzeln in die neu erschaffene Krume der Erde, und Samen wurden ausgesät, die nur auf die Ankunft des Lichtes warteten – und diese Zeit kennt und preist man als das Zeitalter der Einkerkerung Melkos.«
Anmerkungen
1 Offenbar sehr bald nach der Niederschrift des Textes wurde die folgende Passage hinzugefügt, doch später deutlich durchgestrichen:
»Die Wahrheit ist, dass er ein Sohn von Linwe Tinto ist, dem König der Flötenspieler, der einst auf dem großen Marsch von Palisor verschwand, durch Hisilóme wanderte und die einsame Fee des Zwielichts (Tindriel) Wendelin fand, die auf einer Buchenlichtung tanzte. Da er sie liebte, war er einverstanden, sein Volk zu verlassen und für immer in den Schatten zu tanzen, doch seine Kinder Timpinen und Tinúviel schlossen sich lange danach den Eldar wieder an; und über diese beiden gibt es Geschichten, obgleich sie selten erzählt werden.«
Der Name Tindriel stand in dieser Form im Manuskript, doch er wurde dann in Klammern gesetzt und am Rand Wendelin hinzugefügt. Hier finden sich die ersten Hinweise auf Thingol (Linwe Tinto), Hithlum (Hisilóme), Melian (Tindriel, Wendelin) und Lúthien Tinúviel; hierzu weiter unten.
2 Vgl. die Erklärung der Namen Eriol und Angol als »Eisenklippen« im Namensverzeichnis unter dem Eintrag Eriol.
3 In Verbindung mit der
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