Das Buch des Kurfürsten: Historischer Roman (German Edition)
sie nebenan warten müsste, so sehr begriff sie, dass sie augenblicklich mehr für ihn tun konnte, wenn sie in der Kanzlei zu Protokoll gab, was sie wusste.
Und so hastete sie aus der Schlafkammer, küsste Juli und ihre Mutter und eilte schließlich, gefolgt von ihrem Vater, hinter dem Botenmeister die Stufen hinunter.
Neunundvierzig
„Ich wollte, dass wir das Buch
gemeinsam
zur Kanzlei bringen. Es
gemeinsam
zu Ende bringen, verstehst du?“, sagte Hedwig zu ihrer Mutter. Sie saßen sich am Tisch gegenüber, eine jede hatte einen Becher Bier vor sich. Im Kerzenständer flackerten sanft drei neue Kerzen, die ihre Eltern gekauft hatten. Das hatte Hedwig trotz des Trubels sofort bemerkt, als sie gegen Abend von der Kanzlei zurückgekehrt war. In ihre Wohnung heimgekehrt war!
Lange war sie in der Kanzlei gewesen. Dorthin war Vater nachgekommen, da er zuerst der Witwe Ringeler die Nachricht gebracht hatte, dass Hedwig und Philipp eine schreckliche Sache durchlitten hätten, die es nun aufzuklären gälte. Auch hatte er Ryss bei der Witwe ankündigen wollen. Es war Hedwig schwergefallen, nicht mit hineinzugehen, sondern dem Botenmeister zu folgen, nachdem sie Ryss bei der Wachstube am Tor abgeholt hatten. Vater hatte auch bei Herrn Belier vorgesprochen, ehe er in der Kanzlei wieder zu ihnen stieß. Dort saßen sie und Ryss schließlich mit einem Sekretär, einer Wache und Hofgerichtsrat Weber in der Hofgerichtsstube und warteten darauf, dass Hofgerichtsrat Rinck und vielleicht auch Vizekanzler Culmann erschienen, um sich ihre Aussagen anzuhören. Botenmeister Biber hatte auch den Lehenprobst trotz des Sonntags in die Kanzlei rufen lassen. Mit aufgebrachter Miene hatte der knochendünne Mann das Kopialbuch in Empfang genommen, es aus seiner Pferdedecken-Umhüllung befreit und sofort aufgeblättert. Kein Wort war über seine Lippen gekommen, nur genickt hatte er mehrfach. Und schließlich war Vizekanzler Culmann tatsächlich gekommen. Zum ersten Mal saß Hedwig einem so hohen Herrn gegenüber, einem Mann, der als tüchtiger Jurist bekannt war, als kenntnisreich in Pfälzer Angelegenheiten. Er war schon alt, bestimmt mehr als fünfzig, doch er hörte aufmerksam zu, während sie und Ryss abwechselnd erzählten. Seine Miene verfinsterte sich zunehmend. Reichsritterschaft. Das war das Reizwort, wie Hedwig sehr schnell herausfand. Aber die ganze Angelegenheit ermüdete sie zunehmend – und endlich hatten die Herren ein Einsehen, sicher sei sie erschöpft von all den Widrigkeiten. Man würde sie ohnehin morgen noch einmal vor dem Hofgericht hören, man beäugte ihr zerschlissenes Äußeres, und Hedwig, erst recht im Angesicht all der sonntäglichen Herren, war sich von Anfang an ihres Gestanks schamhaft bewusst gewesen und daher froh, als man sie entließ.
Inzwischen hatte sie gebadet – welch eine Wohltat, in den heißen Zuber zu steigen! – und tränkte zum zweiten Mal seither das Leintuch in der Paste aus zerstoßenem Weihrauch und Milch, um es sich auf die andere Brust zu legen. Das linderte die vom Stillen rot geschwollenen Brustwarzen, Mutter hatte es zusammengerührt, während sie im Zuber saß. Das Tuch musste nun trocknen, sie würde den Vorgang wiederholen, um eine gute Wirkung zu erzielen. Sie schnürte ihr Hemd lose zu und zog die wollene Decke enger um sich. Es war nicht kalt in der Stube. Herr Zahn hatte mit Michel zusammen Feuer entfacht und tüchtig eingeheizt, ehe auch er noch einmal in die Kanzlei aufgebrochen war, hatte Mutter erzählt, doch mit dem feuchten Tuch auf der Brust und müde, wie sie war, fröstelte sie leicht. Hedwig sagte: „Ihn damit allein zu lassen, wäre nicht recht gewesen.“ Sie dachte daran, wie sie ihn in der Hütte angebettelt hatte,
sie
nicht allein zu lassen. Da hatte sie noch nicht einmal seinen Namen gewusst. Wie lange war das her! Es schien ihr viel länger als die vier Tage, die seither tatsächlich vergangen waren.
Mutter schwieg noch immer, und so flüsterte Hedwig in die Stille hinein: „Ich hätte nicht gewusst, was tun ohne ihn.“
Ein Räuspern. Dann: „Er ist ein wenig seltsam, doch bin ich froh, dass er zur Stelle war. Wenn auch zufällig und unfreiwillig.“
Hedwig lächelte. Ja, so hatte sie anfänglich auch über Ryss gedacht. Seltsam. Fremd. Unheimlich war er ihr gar gewesen. Sie verstand ihre Mutter. Und spürte doch Widerspruchsgeist in sich, eine trotzige Haltung
dagegen
. Gegen allzu rasches Urteilen. Gegen Voreingenommenheit. Und gegen die Bedenken,
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