Das Buch des Kurfürsten: Historischer Roman (German Edition)
aufgewühlt.
Was sollte er tun?
Warten? Blieb ihm denn nichts anderes, als zu warten?
Das Kopialbuch musste doch zurück in die Kanzlei. Warum hatte der Sauhund es nicht gebracht? Die Fragen jagten erneut durch sein Hirn, endlos.
Vor der Kanzlei standen Leute.
Ihn graute bei der Vorstellung, dass er sich zusammennehmen musste, dass er ihre Fragen freundlich beantworten sollte. Wie sollte ihm dies nur gelingen?
Philipp näherte sich dem Gebäude – und stockte jäh.
Die Erkenntnis, wer da vor der Tür stand, traf ihn so hart, als schlüge ihm jemand eine Eisenfaust in den Magen. Ihn schwindelte.
Im selben Augenblick sahen sie ihn.
Zwanzig
Matthias sah ihn im selben Augenblick, da Philipp ihn sah. Wie vom Donner gerührt blieb sein Schwiegersohn stehen, verschreckt, bestürzt. Zum Henker, was hatte das zu bedeuten? So begrüßte man nicht seine Schwiegereltern. Es bestärkte Matthias in dem unangenehmen Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Wegen dieser Ahnung und weil er nicht mit vier Burschen in der Kanzlei einfallen wollte, hatte er die Jungen in Cornelius’ Obhut am Markt zurückgelassen, wo sie sich die Zeit vertreiben und warten konnten. Er machte einige Schritte auf Philipp zu. Gundel, die ihn ebenfalls erblickt hatte, folgte ihm.
Auch Philipp kam heran. Und ganz eindeutig trübte etwas sein Gemüt. Seine Wange war geschwollen und hatte eine leicht gelbliche Färbung. Sein Blick zuckte gehetzt von Gundel zu ihm, als er sie grüßte. Steif wie ein Holzstück ertrug er Gundels Umarmung.
„Gott auch dir zum Gruße, Philipp“, sagte Matthias und zog den Jungen an sich. „Wir wollten eben nach dir fragen.“ Er täuschte sich nicht. Philipps Körper blieb auch bei ihm starr, kein Lächeln der Überraschung, wenn schon nicht der Freude, lag auf seinem Gesicht. Blass und dünn stand der junge Mann da und erklärte tonlos: „Ich hatte Mittag.“ Atemwölkchen stoben in die kalte Luft.
Matthias nickte. Ihm kam ein Gedanke, der ihm sogleich Sorgen bereitete. Womöglich hatten Hedwig und Philipp sich gestritten? Er kannte das von Philipp zwar nicht, doch was, wenn er Hedwig geschlagen hatte? Philipps geschwollene Wange könnte von einem Gegenschlag Hedwigs herrühren, die, er kannte seine Tochter, sich durchaus zu wehren wusste. Wenn Philipp sie aber so geprügelt hatte, dass sie zu Hause bleiben musste?
„Wir kommen eben vom Haus Belier“, begann er deshalb und legte einen Unterton in seine Rede, lauernd, tadelnd.
Unter der schmalen Halskrause ging der Knorpel an Philipps Kehle auf und nieder. Er nutzte die Pause, die Matthias absichtlich hatte entstehen lassen, und bedeutete ihnen, ihm zur Ecke des Kanzleigebäudes zu folgen. „Ich, nun, ich …“, stotterte er.
„Willst du uns erklären, warum Hedwig nicht dort ist, wo sie sein sollte, und was das Gerede um ihre kranke Mutter zu bedeuten hat?“
In Philipps Blick lag die pure Verzweiflung, als er erwiderte: „Das kann ich nicht.“
„Was soll das heißen, das kannst du nicht?“, sagte Matthias streng. „Herr Belier sagte, du seiest dort gewesen und hättest Hedwig entschuldigt.“
„Sie ist fort!“, rief Philipp.
„Fort?“, wiederholte Gundel bestürzt.
„Du meinst, sie ist davongelaufen? Hattet ihr Streit?“, setzte Matthias nach.
„Nein!“
„Zum Henker, Philipp, du bist der Ehemann meiner Tochter! Was ist geschehen?“
„Wo ist meine Tochter?!“, schrie Gundel. „Und Juliana?“
„Ich weiß es nicht.“
„Du hast ihr doch kein Leid angetan?“
Philipps Augen zuckten unruhig, er sah an ihm vorbei, er hob den Blick nach oben, senkte ihn wieder, sah sich selbst über die Schulter, als hielte er nach einem Lauscher Ausschau.
„Philipp?!“ Matthias hatte seinen Schwiegersohn noch niemals so erlebt. Der Junge erschien ihm wie nicht bei sich, ja geradezu irr kam er ihm vor. Seine Sorge nahm zu. Was war zwischen den beiden vorgefallen? Matthias kannte die Leidenschaft der Jugend, die die beiden gegen seinen Willen immer wieder zueinander getrieben hatte. Was, wenn diese Leidenschaft nun ins Gegenteil gekippt war? Schuldgefühl regte sich bei diesem Gedanken. Hätte er doch besser auf seine Tochter achtgeben sollen? Nein, er hatte alles getan, damals, als er von der Liebschaft der beiden erfuhr. Er hatte Philipp verboten, sich Hedwig zu nähern, er hatte Hedwig eingesperrt. Matthias hatte geglaubt, die beiden hielten sich daran, zumal Philipp seinerzeit fortgezogen war. Als Hedwig ihm eröffnet hatte, dass Philipp nun so
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