Das Buch des Wandels
um Stückzahlen, Akkorde, Materialschlacht.
Auf der anderen Seite des Atlantiks entwickelte sich die Autoindustrie völlig anders. Bis zum Zweiten Weltkrieg baute man Autos für Privatleute in Europa eher in Kleinserien, die unter
Manufakturbedingungen gefertigt wurden. Nach dem Krieg begann die Autoindustrie der großen europäischen Länder Deutschland, Italien und Frankreich mit Fahrzeugen, die aus der materiellen Not geboren wurden – vom Goggomobil über den Käfer bis zur »Ente« und dem Fiat 500. Mercedes hatte zunächst mit den Massenmärkten wenig zu tun, auch BMW bewegte sich in winzigen Nischen. Japans Automobilbranche, die nach dem Zweiten Weltkrieg aus dem Nichts anfing, entwickelte derweil Kleinwagen für die überfüllten Ballungsgebiete Japans.
Dagegen dachten die Amerikaner immer schon in Weltmaßstäben – und in Kostenrelationen. 1985 brachte GM alle seine Modelle auf eine einzige Chassis-Plattform und versuchte, ein »Weltauto« zu entwerfen. Doch die Kunden waren alles andere als begeistert von der Gesichtslosigkeit der neuen Modelle. Die Absätze fielen. Als Antwort wurden die Stückzahlen erhöht, um die Preise zu senken – der alte Trick des Henry Ford, über den Preis einen neuen Markt zu schaffen. Die großen Fabriken, die nun auf die neue Weltnorm und riesige Stückzahlen eingestellt waren, mussten um jeden Preis ausgelastet werden. Das verkündete der Plan. Listenpreise für Neuwagen waren bald nicht mehr das Schild wert, auf dem sie standen, unter 30 Prozent Rabatt ließ sich kein Auto verkaufen. »Sie bauen keine Autos, die sich die Kunden wünschen, sondern Autos, die sie bauen müssen, um ihre Fabriken auszulasten«, so Nick Gidway, der Gründer des Autoportals CarZen. »Sie müssen sie bauen, weil sie eine feste Kostenstruktur haben, die sie amortisieren müssen!« 2
Als die vier CEOs der großen amerikanischen Autofirmen im November 2008 zur Krisenanhörung vor dem Kongress erschienen, zelebrierten sie wie degradierte, aber noch in vollem Ornat befindliche Könige noch einmal die untergehende Herrlichkeit des Produktionsindustrialismus. Kein einziger der Manager konnte auf die wütende Frage von Kongressabgeordneten, ob er nicht mit dem Privatjet gekommen sei, die Hand heben. Die Öffentlichkeit
war empört. Und genau diese Empörung war wirklich neu. »Wenn die Amerikaner sich plötzlich für die Bescheidenheit der Verkehrsmittel ihrer Bosse interessieren«, schrieb »Newsweek«, »dann beginnt in der Tat ein neues Zeitalter.«
Das magische Automobil
Sind Sie in der letzten Zeit einmal Auto gefahren? Ich meine, ein richtiges Auto, so ab 200 ordentlichen PS? Über eine längere Strecke?
Schon allein wie es dasteht und ständige Bereitschaft signalisiert; materialisierte Geschwindigkeit, geformt im Windkanal, mit Linien, die etwas Organisches haben. Die Fernbedienung entlockt ihm ein sanftes Schnurren; eine Bestätigung unbedingter Bereitschaft. Drinnen umwölkt uns der Geruch von ätherischen Ölen und Leder: der Duft herber Männlichkeit. Ein schmeichelnder Sitz, der sich unserem Rücken anpasst. Ein Raum, der dem mütterlichen Uterus ähnelt; gebogen, sanft gekurvt, uns von allen Seiten umfassend. Rund um uns die Instrumente, die nur auf unsere »Eingaben« warten, Fenster des dienenden Gehorsams.
Der sanfte Druck, wenn wir durch ein leichtes Fußwippen beschleunigen, weckt die Adrenaline, öffnet die Dopaminkanäle und verheißt endorphinische Freuden. Ohne auch nur einen größeren Muskel anzuspannen, überholen wir in Windeseile jeden Konkurrenten. Jedem Raubtier, jeder Beute sind wir tausendfach überlegen. Dann, auf der Autobahn, wummert der Sound, der uns mit den Lustgefühlen unserer Kindheit oder den erotischen Erinnerungen unserer Adoleszenz verbindet. Mit erhöhtem Herzschlag gleiten wir dahin, unangreifbar, mächtig, uneinholbar …
Nein, dies war keine leicht vertextete Werbung für einen Sportwagenhersteller. Sondern der Versuch, das Erlebnis Autofahren aus dem neuronal-evolutionsbiologischen Blickwinkel zu schildern.
Autos sind Fortbewegungsmittel. Aber das Auto ist auf einer metaphorisch-metaphysischen Ebene viel, viel mehr. Natürlich fahren wir in ihnen von A nach B, und oft befördern wir Familienmitglieder oder Möbel. Aber ihr magisches Wesen beziehen Autos aus einer ganz anderen Sphäre. Vor allem Männer sind mit Autos auf einer geradezu zerebralen Ebene verbunden. Sie befinden sich mit ihnen in einer Art Hirn-Gerät-Symbiose.
Bis vor kurzem war
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