Das Buch Gabriel: Roman
Pike ward nicht mehr in Europa gesehen. Er verschwand einfach. Aber Jahre später wurde ein früherer Saufkumpan von ihm, jemand aus der Formel Eins, auf ein Schloss hinter Cap d’Ail eingeladen. Dort gab es einen Keller voller experimenteller Weine mit handbeschrifteten Etiketten. Der Mann erkannte Pikes Handschrift. Als er den Wein kostete, wusste er, dass die Welt sich verändert hatte. Er machte sich auf, um Pike und seine geheime Anbaufläche ausfindig zu machen. Und er stöberte ihn auf, wie er bärtig inmitten seiner Rebstöcke lebte und einen alten Laster fuhr. Einer von Europas größten Lebemännern, ha. Und keiner versteht es – zumindest keiner, der nicht weiß, was Pike an jenem Tag hinter Monte Carlo erkannt hat. Er lebt bis heute zwischen seinen Weinstöcken und versucht, dieses Geheimnis in die Trauben zu kriegen. Seine Produktion ist minimal, aber er hält sich an die Vorschriften, weswegen er, anders als Toque, offen gehandelt werden darf. Fast, als würde er die Sache verschleiern wollen.«
»An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen.« Ich schnappe mir endlich das Glas. »Erntet man etwa von Dornen Trauben oder von Disteln Feigen?«
»Was – kennst du den Basken etwa?«
»Das ist Matthäus. Die Bibel.«
»Ach so.« Smuts blinzelt. »Didier könnte dir auf jeden Fall erzählen, dass Pike eine Offenbarung hatte und dann einen Einhorn-Boden suchen ging, um seine Rechnung mit Bacchus zu begleichen. Brauchte Jahre dafür, wurde aber fündig. Nur einige wenige bekamen das spitz. Gerüchteweise gehen brünstige Jungfrauen in seinen Weinberg, und lesbische Klosterschülerinnen und Adelige pilgern dorthin. Im Kempinski habe ich mal einen Mann getroffen, der sagte, eine Comtesse d’Auxonne hätte unter Marius-Rebstöcken ein Kind empfangen. Er erzählte, dass sie seit damals manchmal allein vom Zirpen der Grillen kommt. Ich würde ihm allerdings keinen Glauben schenken, er schädelte Léoville-Barton wie Bier. Trotzdem, ha. Mehr als ein Sommelier übt sich für einen Fick unter Rebstöcken lange Zeit in Zurückhaltung. Didi hat sogar dazu geraten, es unter Shiraz zu treiben.«
»Dann kannst du dich nach einer schlechten Nacht unter Shiraz also gleich einsargen lassen.«
»Jetzt hör mal zu, Putain.« Smuts zieht sich hoch. »Diese Pressungen hier entstammen einem geologischen Glücksfall, der sich zur Zeit der ersten Menschheitsvorfahren ereignet hat. Sie sind ein korrigierender Eingriff in die Natur. Sie wachsen auf prähistorischen Mineralböden, Leidenschaft und jungfräulichem Ejakulat. Also trink das Zeug und halt die Fresse.«
Bei meinem ersten Schluck Marius rollt sich eine Landschaft aus – eine Landschaft mit schwarzen Schokoladenbäumen, Tabakhimmeln und Kirschauen, auf denen Kräuterstängel im sanften Wind nicken. Nach einem weiteren tiefen Schluck weitet sich das Panorama einen Hügel hoch. Mein Gefühl für Körpergewicht und Proportion verändert sich unmerklich, Muskeln und Organe kommen in stiller Wachsamkeit zur Ruhe. Als ich hochsehe, grinst Smuts mich an.
»Mach die Augen zu«, sagt er. »Bist du schon beim Hügel?«
Da ist eine ansteigende Wärmekurve, der gesamte Körper wird sanft angehoben, synchron zur Bewegung des Geschmacks. Der Hügel. »Ja«, sage ich. »Ja.«
»Gut. Versuch mal, noch ein bisschen dort zu bleiben – nimm einen kleineren Schluck und dann sofort den nächsten. Spürst du den Wind? Spürst du, wie sich die Hitze entfaltet?«
Es ist alles da: eine Landschaft, in der ich alleine bin, eine lebende Landkarte, über die es mich vorantreibt.
»Vielleicht brauchst du ein, zwei Flaschen, aber Didier schwört, der Wein kann dich zurück durch seine eigenen Reben bis zu einer Veranda bringen, wo immer Sommernacht ist und wo der verbesserte allererste Vorfahr der Menschheit lebt. Der Trick ist, dort zu bleiben und sich ebenfalls verbessern zu lassen.«
Whoosh. Nimbus in der Flasche. Blinzelnd sehe ich mich um, jetzt auch ganz betört von der Vorstellung eines Mannes, der entdeckt, wie man leben soll. Wenn auch spät, so ist mir mittlerweile doch aufgegangen, dass dieses Bild den Kern meines Versagens im Leben ausmacht. In meiner Ethik habe ich das Streben nach einem immer höheren Nimbus als »das Gute« definiert, und daran habe ich festgehalten, wie eigentlich meine ganze Kultur, die schließlich auch von allem immer mehr, alles immer größer und immer besser will. Aber wir, die Kultur und ich, sind beide auf dem Holzweg, auf einem Weg in den Tod –
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