Das Buch Gabriel: Roman
die Pixel des Lebens. Wir alle zusammen und niemand sonst auf der Welt sind Zeugen des springenden Fisches geworden. Dasselbe Pixel fügt sich in das Leben eines jeden von uns, und wären wir Überlebende eines Flugzeugabsturzes oder Schiffbrüchige auf einem Floß im Ozean, würden wir uns jetzt wohler fühlen. Wer wäre der Anführer? Wer würde in Panik geraten? Wer wäre der Intrigante? Der Märtyrer? Bis zu diesen Fragen reichen die Wellen, die entstehen, wenn ein Fisch springt. Diese Dinge machen den Menschen aus, die menschliche Existenz, und ich verspüre eine flüchtige Nostalgie. Haben Sie mal bemerkt, dass es in unseren schlimmsten Alpträumen gar nicht nötig ist, einen Freund, einen Arzt oder einen reichen Mann am Fenster zu sehen – irgendein anderer Mensch reicht schon. Wenn man es recht bedenkt, ist dieses dauernde Hände-Ausstrecken gar kein so fehlerhaftes Verhaltensmuster. Es kompensiert vielleicht ein wenig den Irrtum, überhaupt auf der Welt zu sein. Eventuell ist es sogar Ausdruck einer Ahnung, dass wir es zusammen schaffen könnten, das umhertreibende Schiff des Lebens zu bemannen.
Solcherlei Grübeleien sind ein erquicklicher Zeitvertreib, bis ich anfange, über den Akt des Nachdenkens selbst nachzudenken. Dann fällt mir auf, dass Essen und Zeit die Wirkung von Marius in meinem Organismus abklingen lassen und dass sich der Sake für einen steilen Nimbus-Anstieg in einem viel zu kleinen Kännchen befindet.
Ich nehme mir ein paar Kurze aus meinem Mantel und gehe zu den Toiletten.
Als ich drin bin, kommt auch Smuts herein. »Tomohiro sagt, der Boss taucht heute nicht mehr auf. Hallelujah. Und nur damit du’s weißt: Ich habe allen erzählt, dass du ein irre wichtiger internationaler Gastrojournalist bist. Versuch, professionell aus der Wäsche zu kucken. Ich hab ein Auge auf dich.«
»Prost.« Einhändig ziehe ich zwei Fläschchen mit weißem Rum hervor, teile sie mit den Fingern und halte Smuts eines hin. Er mag Rum.
»Hau ab damit.« Er wendet sich ab. »Kapierst du’s nicht? Ich muss neben einem Mann arbeiten, der Sashimi so schnell schneidet, dass die Stücke noch zappeln, wenn sie aufs Schneidebrett fallen.«
Ich zucke mit den Schultern, stehe da und glotze, schätzungsweise wie eine Kuh, auf die Fläschchen. Im Licht fangen sie an zu glänzen.
Smuts fährt sich mit einer Hand übers Gesicht. Er unterdrückt ein Gähnen. Und schließlich fallen seine Schultern zusammen, weigern sich, länger ein innerer Kleiderbügel zu sein, und mit einer weit ausholenden Armbewegung schnappt er sich das Fläschchen. Wie immer stoßen wir mit der Linken an – weil die Linke mit dem Herzen in Verbindung steht.
»Wo sind die Lines?« Er klopft meine Taschen ab.
Whoosh.
Allzu viel muss ich nicht sagen über die Heiligkeit einer Toilettenkabine, in der gemeinsam Drogen konsumiert werden. 19 Während Smuts auf dem Spülkasten Lines legt, wobei er mit der Schnelligkeit des Kochs Häufchen zusammenschiebt und wieder auseinanderhackt, sehe ich plötzlich das grafische Schaubild unserer Freundschaft vor mir: zwei Bereiche von sehr unterschiedlicher Farbe, das Leben des einen neben dem des anderen, die nur eine sehr schmale Überschneidung haben, eine schlanke Vagina in einer dritten Farbe, wo wir uns treffen. Harte Urteile können hier nicht gefällt werden – eben weil wir beide unsere Farbe beigesteuert haben und so zur Hälfte über uns selbst urteilen würden.
Ich schniefe meine Lines von unten nach oben, Smuts geht seine von oben nach unten an. Wir genehmigen uns jeweils noch einen Kurzen und naschen dann am MDMA. Schließlich richtet Smuts sich auf und saugt sich die Lungen voll Luft: »Pu- tain !« Dann schwirrt er hinaus, ich bleibe allein zurück und lecke zum Runterspülen erfrischend bittere Pulverreste von meiner Bankkarte. Danach schwebe ich wie eine Wolke zurück an meinen Tisch.
Mehr Reiswein ist eingetroffen und hat jetzt die Wirkung eines Fußbades nach einem barfüßigen Gang auf verschneitem Rasen. Ich würde an dieser Stelle gern das Rezept zu dem Nimbus skizzieren, der durch all das heraufbeschworen wird; aber wie einige der besten Dinge speist auch er sich aus intuitiven und unberechenbaren Quellen. Gewisse Rezepturen werde ich Ihnen in einer ruhigen Minute und bei einem Glas Wein natürlich noch unterbreiten. Aber für den Moment, wenn Sie mir folgen wollen, gibt es nur ein ultimatives Rezept für den Limbus:
Nachlegen – mehr von allem.
Langsam bekommt der Abend einen
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