Das Buch Gabriel: Roman
ab, dass der Krankenwagen entschwebt, wieder Ruhe einkehrt und die beiden Männer ihre Hängegesichter in die Nacht heben. Streifen vom Bieretikett schälend und daraus mit der Hand Kegel rollend, beuge ich mich wieder nach vorn:
»Und – was ist mit dem Club passiert?«
»Tja.« Der Zerfurchte wendet sich an seinen Freund. »War das nicht dieser Große, der aus Leipzig?«
»Das waren zwei, weißt du nicht mehr? Einer hieß Bernd oder so – Bernd Specht.«
» Gerd Specht?«, souffliere ich.
»Ja, genau«, sagt der Genosse. »Gerd Specht.« Beide heben den Kopf noch ein bisschen höher und blasen Rauch ins Lampenlicht.
»Und – was ist passiert?«
»Der Club hat dichtgemacht«, sagt der Zerfurchte. »Ich glaube, er ist danach nach Kreuzberg gegangen.«
»Nein, nach Tempelhof.« Sein Freund dreht sich zu mir: »Warst du schon mal am Flughafen Tempelhof? Das größte Gebäude der Welt. Eins von Hitlers Projekten in den Dreißigern.«
»Nein.« Der Zerfurchte schüttelt den Kopf. »Das zweitgrößte Gebäude der Welt, nach dem Pentagon. Oder das drittgrößte. Auf jeden Fall unter den Top drei.«
»Was weiß ich – das solltest du dir auf jeden Fall mal ansehen. Ein fantastisches Baudenkmal, über einen Kilometer lang. Dreieinhalb Millionen Quadratmeter mitten in Berlin. Heute fast leer. Der Flughafen hat nur einen kleinen Teil davon in Beschlag, macht aber sowieso bald zu. Die Stadt weiß noch nicht, ob da Wohnungen rein sollen oder ein Hotel. Aber selbst bei zwanzig Hotels wäre noch Platz übrig.«
»Und dorthin ist Specht umgezogen?« Ich versuche, nicht fiepsig zu klingen. »Mit dem Club?«
»Ja, sein Laden muss da irgendwo sein, und wer weiß, was da sonst noch alles so ist. Ich glaube, irgendwo gibt’s eine Tanzschule und eine Bowling-Bahn, die haben die Amis gebaut. Wahrscheinlich ist in einigen Teilen seit dem Krieg keiner mehr gewesen.«
»Ich glaube, es gibt sogar eine Fischfarm«, nickt der Zerfurchte. »Klingt wie ein Scherz, ist aber typisch Berlin, wir wissen einfach nicht, was wir mit diesen Orten anfangen sollen. Trotzdem ein geschickter Zug von Specht, da so früh hinzugehen. Kannst du dir vorstellen, deine Geschäftsräume in so einem Gebäude zu haben?«
Während die Männer reden, spüre ich, wie sich die Wärme aus meinen Fingerspitzen zurückzieht.
»Die Mauern sind ungefähr fünf Meter dick«, sagt der Genosse. »Massivbau, Stein und Beton. Man könnte direkt daneben stehen und würde einen Club nicht hören.«
»Nein, drei Meter dick«, korrigiert der Zerfurchte. »Diese Estée Lauder, diese Schönheitsmillionärin aus New York, wollte den Flughafen kaufen und eine Avantgarde-Klinik draus machen, wo die Jets bis zur Tür fliegen. Aber typisch natürlich: Die Stadt hat wieder nur ein Symbol der Superreichen gesehen, die ihr Denkmal benutzen. Die ganzen Jobs, die dadurch entstanden wären, waren egal. Und Berlin braucht Jobs, wir haben uns bis heute nicht von der Wiedervereinigung erholt.«
»Jetzt redest du selbst schon wie ein Kapitalist«, spöttelt sein Freund. »Berlin will eben kein Tummelplatz für die Superreichen sein.«
»Wer im Krankenhaus liegt, ist doch auf keinem Tummelplatz. Und ein Forschungszentrum wollte die Lauder auch bauen. Stell dir mal vor – mit einer Landebahn direkt vor dem Fenster. Aber egal. So ist das auf jeden Fall mit Tempelhof. Du könntest das alles dort unterbekommen, und es wäre immer noch Platz.«
»Ja, das war einer von Hitlers großen Träumen«, sagt der Genosse. »Er wollte, dass Besuchern, die in Berlin landen, die Kinnlade runterfällt. Sie sollten aus dem Flugzeug steigen und den Mund nicht mehr zu kriegen, das war die Idee. Aus der Luft hat Tempelhof die Form eines Adlers, und zur Flugfeldseite hin gibt es ein Dach, unter dem die Flugzeuge wie in einer gigantischen Garage parken.«
»Große Träume«, sinniert der Zerfurchte. »Dabei wurde Tempelhof erst nach dem Krieg richtig berühmt, während der Luftbrücke, als die Russen die Zufahrtsrouten nach Westberlin blockiert hatten. Da sind die Flieger im Minutentakt in Tempelhof gestartet und gelandet. Die Rosinenbomber – wegen der Süßigkeiten, die die Piloten beim Anflug kurz vorm Flughafenzaun aus dem Fenster geworfen haben, für die Kinder, die unten schon gewartet haben.«
Auf meinem Gesicht macht sich ein heiter gelassenes Lächeln breit. Der Wind trägt nicht mehr länger die Vorboten des Siechtums, jetzt schmeckt er nach Neuanfang. Außerdem verzeichne ich bei dieser
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