Das Buch Gabriel: Roman
völlig von der Bildfläche verschwinden.
Er könnte aber auch genau an dem Ort sterben, an dem er residiert.
Als ich an einem Tisch vorbeigehe, sehe ich eine Tafel, die ein Großes Frühstück und ein Kleines Frühstück anpreist. Mein Magen zwingt mich, eine Rast einzulegen. In der Hoffnung, mich für den Tag zu stärken, wähle ich das Große Frühstück. Aber als es kommt, sitze ich nur da und starre auf den Teller. Nicht weit voneinander entfernt, sich aber trotzdem nicht berührend, liegen auf ihm Trauben, eine Orangenscheibe, Weißkohl, Brot, Butter, Käse, Schinken, ein Ei und eine Blume. Und er hat keinen Preis, offensichtlich zahlt man, was man für angemessen hält. Noch bevor ich in den Tag starte, werde ich schon daran erinnert, dass ich in Ostberlin bin, wo man das Rad neu erfindet.
Wo der Master-Limbus Probleme hat, richtig zu greifen.
Mit einer Gabel stochere ich in meinem Frühstück herum und schiebe Dinge zu Haufen zusammen, wobei ich mich frage, zwischen welche Happen die Trauben passen und ob ich die Blume essen soll. Von hier ist es nicht weit zur Choriner Straße, wo ich als Junge gewohnt habe. Aber ich kann mich nicht überwinden, unser altes Haus zu suchen. Eigentlich sollte ich mich behütet fühlen – ich bin wieder in Ostberlin und höre Fahrradklingeln auf der Straße. Doch der Luxus eines Schutzzaubers ist mir versagt. Im Licht des kühlen Morgens kommt mir mein Todeswunsch wie Masturbation vor. Das hier fühlt sich eher nach einer Stadt an, in der, wer sterben will, einfach den Recycling-Müll runterbringt, die Küchenkräuter gießt, das Abo der Süddeutschen Zeitung kündigt und stirbt.
Den Tag verbringe ich damit, ein mechanisches Suchprogramm abzuspulen. Der Himmel bleibt bedeckt. Nachdem ich es bei allen Spechts im Telefonbuch probiert habe, wage ich einen Angriff auf Brunnenstraße, Rosenthaler Platz und Torstraße, streife in meinem Soldatenmantel auf und ab, trinke Kaffee und rauche, weil man in Berlin nämlich rauchen darf. Lang und breit hat man mich darüber aufgeklärt, dass die Berliner das europäische Verbot nicht missachten, weil sie so viel mehr rauchen, sondern weil ihnen einfach niemand mehr zu sagen hat, was sie zu tun und zu lassen haben.
Aber zwanzig Gitanes Blondes bringen mich dem Pego auch nicht näher.
Dort, wo ich es vermutet hatte, ist ein Secondhandshop mit Restbeständen der Sowjetarmee.
Danach wird aus dem Tag schnell Nacht.
Windböen fauchen die Kastanienallee hinauf. Wie Abgas wabere ich durch die Gegend, am bereits stillen und dunklen Kastanienhof vorbei und weiter aufs Kopfsteinpflaster am Zionskirchplatz. Groß und schwarz steht die Kirche inmitten eines Betts aus goldenen Blättern. Ich bleibe stehen und sehe an ihrer Spitze entlang in einen dicht bewölkten Himmel hinauf. Mir schaudert. Die Sinnlosigkeit ergießt sich als einer dieser Sturzbäche über mich, die sich einer Stimmung nachhaltig bemächtigen können. Ich gehe die Swinemünder Straße hinunter, eine der kurzen Wohnstraßen, die wie Radspeichen vom Platz wegstreben. In meinem Kopf lässt sich Swinemünder Straße in Schweine-Mundo-Straße übersetzen, und ich wähle diese Route nur wegen des düsteren Omens. Kaum hundert Schritte weiter trifft sie auf die Granseer Straße – in meiner Sprache die Gram-See-Straße. Sie läuft an einem kleinen Park entlang, ganz hübsch, aber nicht besonders genug, um ihn zu empfehlen, vorbei an den typischen fünfstöckigen Wohnhäusern, die mit einem begrünten Hof dazwischen in doppelter Reihe stehen, vorne die Vorderhäuser , hinten die Hinterhäuser , in denen die meisten Berliner wohnen.
Ein Stück weiter vorne mache ich auf die Straße suppendes Licht und Geräusche aus. Einer von Berlins vielen Vorzügen: Im Erdgeschoss eines dunklen Hauses in einer ruhigen Wohngegend hat sich ohne wirtschaftlich vernünftigen Grund eine Café-Bar eingenistet. In Großbritannien wäre so etwas ein Skandal von einem Geschäftsmodell, eine todbringende Brüskierung von Zielgruppenansprache und Demographie, in Berlin dagegen ist die Idee einfach nur folgende:
Wenn dir der Sinn nach einem Kaffee steht, machen wir dir einen.
Während ich mich auf das Licht zutreiben lasse, fällt mir auf, dass ich mich in der Hauptstadt der drittgrößten Wirtschaftsmacht der Welt komisch entspannt fühle, ganz ungeachtet meiner Mission. Obwohl die deutsche Wirtschaft größer und gesünder ist als die britische, merke ich, dass meine Abwehrmechanismen ausgefallen sind und
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