Das Buch Ohne Gnade: Roman
restlichen Inhalt aufs Bett gekippt hatte. Wenn Elvis das Geld gesehen hätte, wäre er vielleicht auf die Idee gekommen,dass sie es sich teilen sollten. Und da der Umschlag sich in Sanchez’ Zimmer befand, gehört er rein technisch betrachtet ausschließlich ihm. Sanchez holte das Geld heraus und begann es mit zitternden Fingern auf dem Bett zu zählen. Es waren Hundertdollarscheine. Zweihundert Stück.
Zwanzig Riesen.
Zeit, dem Spielkasino einen Besuch abzustatten.
ACHT ♦
Annabel de Frugyn wurde in Nigel Powells privates Büro geleitet. Es war ein eleganter Raum mit einem dicken, federnden königsblauen Teppichboden und schlichten weiß gekalkten Wänden. Ein großer Holzschreibtisch stand an einem Ende des Raums vor einer Fensterreihe, die von zwei hellroten Vorhängen verhüllt wurden die zu dem blauen Teppich einen fast schmerzhaften Kontrast bildeten. Powell bat sie, in einem kleinen schwarzen Ledersessel vor dem Schreibtisch Platz zu nehmen. Er ging um den Schreibtisch herum und ließ sich in einen erheblich größeren, ebenfalls schwarzen und mit Leder bezogenen Sessel fallen. Auf der Schreibtischplatte befand sich eine nur nachlässig geordnete Ansammlung von Papieren und gerahmten Fotos, Letztere dergestalt ausgerichtet, dass Powell sie betrachten konnte. Außerdem stand auf dem Tisch ein großes weißes, ziemlich altmodisches Telefon links von seinem Sessel.
Einer der beiden Wachmänner, die den Hotelbesitzer kurz vorher ins Foyer begleitet hatten, war ihnen ins Büro gefolgt. Er nahm einen Platz an der Tür ein, die er hinter ihnen geschlossen hatte. Immer noch stehend, schenkte sie ihm ihr fratzenhaftes Lächeln, doch in klassischer militärischer Tradition blickte er starr geradeaus und ignorierte sie. Unbeeindruckt setzte sie sich Powell gegenüber in den Sessel. Auf ihrem Schoß lag ihre Handtasche, die sie immer bei sich trug und mit festem Griff umklammerte. Sie mochte dem Sicherheitsdienst des Hotels gestattet haben, ihr Gepäck auf ihr Zimmer zu bringen, doch niemanddurfte ihre alte, schmuddelige braune Lederhandtasche auch nur berühren.
»Sehen Sie, Miss de Frugyn, Sie fragen sich wahrscheinlich, weshalb Sie hier sind«, begann Powell und lehnte sich lächelnd in seinem Sessel zurück.
Sie konnte nicht anders, als sein Lächeln zu erwidern. Der Mann hatte einen teuflischen Charme und achtete sorgfältig auf seine äußere Erscheinung. Obgleich er Anfang vierzig war, hatte er keine einzige Falte im Gesicht. Zweifellos das Ergebnis plastischer Chirurgie und regelmäßiger Botoxinjektionen.
Annabels Lachen war das totale Gegenteil und enthüllte eine große Anzahl von Runzeln und Falten in ihrem Gesicht. »Sie wollen, dass ich mit meinen übersinnlichen Kräften irgendetwas tun soll, nicht wahr?«
»Sehr gut. Beeindruckend. Und absolut korrekt. Ich will ganz offen zu Ihnen sein, Annabel – ich darf Sie doch so nennen?« Sie strahlte ihn an, was, wenn überhaupt möglich, noch schrecklicher aussah als ihr verzerrtes Lächeln. »Es ist kein Zufall, dass Sie hier im Hotel sind. Ich habe es so eingefädelt, dass Sie eine Eintrittskarte für die Show gewonnen haben.«
»Als ich den Brief mit der Nachricht erhielt, dass ich gewonnen habe, spürte ich irgendwie, dass irgendetwas fehlte.«
»Tatsächlich? Ihre übersinnlichen Fähigkeiten haben Ihnen das verraten?« Powell, plötzlich viel wachsamer, richtete sich auf.
»Ja. Das und die Tatsache, dass ich an der Umfrage, durch die man eine Eintrittskarte gewinnen konnte, gar nicht teilgenommen habe.«
Er lächelte nachsichtig. »Lassen Sie mich zum Kern der Sache kommen. Ich habe viel Gutes über Sie gehört. Ein Freund von mir hat Sie mir empfohlen, nachdem er Sie vor ein paar Jahren wegen einer Beratung aufgesucht hatte.« Er legte eine Kunstpause ein und seine Miene wurde ernst. »Ich brauche heute Ihre Dienste in einer äußerst wichtigen Angelegenheit.«
»Wollen Sie, dass ich Ihnen voraussage, wer den Gesangswettbewerb gewinnen wird?«
»Nein. Es ist etwas viel Wichtigeres.«
Die Mystische Lady war entschlossen vorherzusagen, was er wollte, ehe er es aussprach. »Wollen Sie wissen, was Sie zum Geburtstag geschenkt bekommen?«, versuchte sie abermals ihr Glück.
Powell warf dem Sicherheitsmann an der Tür über die Schulter einen Blick zu. Ein Blick, der deutlich machte, dass er von Annabels übersinnlichen Fähigkeiten nicht besonders beeindruckt war. Sie musste ihm immer noch den Beweis liefern, dass sie den Titel »Mystische
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