Das Buch ohne Namen - Anonymus: Buch ohne Namen - The Book With No Name
ob sie wüssten, dass die Zeit abgelaufen war.
Sanchez vermochte nicht zu sagen, wer als Erster feuerte, doch es war in der Tat ein einzelner Schuss, der die Stille durchbrach. Dem Schuss folgte eine Pause von einer halben Sekunde, und dann brach die Hölle los. Der Lärm der Schüsse war ohrenbetäubend. Schüsse kamen von überallher, Kugeln flogen in alle Richtungen.
Sanchez warf sich hinter der Theke zu Boden, wie er es bei derartigen Gelegenheiten immer tat. In der Dunkelheit hörte er nur Schüsse, Schreie, Flüche und das gelegentliche Hinplumpsen eines Körpers – einer davon ohne Zweifel der von Mukka. Er spürte ihn dicht neben sich, und er spürte außerdem, dass der Koch tot war. Er hatte nicht geschrien, nicht gestöhnt, sich nicht gewunden, sondern war einfach nur umgefallen. Eine Kugel in den Kopf oder ins Herz wahrscheinlich. Der arme Bastard.
Die Sonnenfinsternis dauerte gut über zwei Minuten, und der Schusswechsel dauerte ebenso lang. Sanchez verbrachte die ganze Zeit mit den Händen über den Ohren hinter dem Tresen in der vergeblichen Hoffnung, dem trommelfellzerreißenden Lärm auf diese Weise zu entgehen, dem Knallen von Schüssen, dem Bersten von Glas, dem Schreien der Leute und dem Fluchen. Dem Stöhnen und Sterben.
Als die Schüsse weniger wurden und die Sonne allmählich wieder hinter dem Mond hervorkam, wurde es langsam heller in der Tapioca Bar . Noch immer bewegten sich vereinzelt Leute im Lokal, auch wenn es in Sanchez’ Ohren klang, als lägen sie in den letzten Zügen. Hin und wieder war ein Stöhnen oder ein Husten zu hören, durchsetzt vom Klang zusammenbrechender Tische, berstender Gläser und zu Boden tropfender Flüssigkeiten.
Endlich, nach etwa zwanzig Sekunden ohne weitere Schüsse und nachdem er zu dem Schluss gekommen war, dass keine unmittelbare Gefahr mehr bestand, erhob sich Sanchez in eine kauernde Haltung. Er suchte an sich selbst nach Schusswunden und überzeugte sich, dass er unverletzt geblieben war, dann zog er sich hoch, um vorsichtig über den Tresen ins Lokal zu spähen. In der Luft hing eine Menge Pulverdampf. Eine höllische Menge Pulverdampf, die es schwierig machte, irgendetwas zu erkennen. Er brachte seine Augen zum Brennen, und sie füllten sich rasch mit Tränen, als würde er im nächsten Moment weinen.
Als sich der Qualm allmählich wegen der Zugluft von der offenen Tür zu lichten begann, fühlte sich Sanchez an jenen Tag vor fünf Jahren erinnert, als Bourbon Kid seine gesamte Kundschaft ausgelöscht hatte. Die Tapioca Bar sah ganz genauso aus wie damals.
Der erste Leichnam, den Sanchez erkannte, war der von Carlito. Sein Hemd war vollgesogen mit Blut, und aus seinen Wunden stiegen dünne Rauchfäden auf. Nicht weit von ihm, Komplize im Tod wie im Leben, lag sein Partner Miguel. Zumindest nahm Sanchez an, dass es Miguel war, denn er trug das gleiche Lone-Ranger-Kostüm wie Carlito. Ansonsten war es unmöglich zu sagen, wer der Tote war. Der halbe Kopf war weggeschossen, und seine Gliedmaßen waren gespickt mit Einschüssen.
Sanchez blickte zur nächsten leblosen Gestalt. Sie gehörte einem der beiden Mönche, auch wenn es schwierig war zu sagen welchem. Er lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Fußboden, und Kyle und Peto sahen sich selbst in normalen Zeiten zum Verwechseln ähnlich. Wie dem auch sei, dieser Mönch hatte eine Kugel in den Hinterkopf bekommen und war mit großer Wahrscheinlichkeit der Erste, der erschossen worden war. Er musste frühzeitig zu Boden gegangen sein, denn die tödliche Wunde schien die einzige zu sein, die er erlitten hatte. Die gelbe Kobra auf dem Rücken seiner Jacke bildete einen hübschen Kontrast inmitten von all dem dunkelroten Blut.
Sanchez spähte weiter in die Runde, bereit, sich beim kleinsten Anzeichen von Gefahr wieder hinter den Tresen zu werfen. Am meisten interessierte ihn die Frage, ob Jessica überlebt hatte, und – auch wenn es ein wenig lachhaft erschien und selbstsüchtig obendrein – er wollte auch wissen, was aus Jefe geworden war. Wenn Jefe tot war und Jessica noch lebte, konnte Sanchez sie vielleicht ein wenig trösten.
Wie es der Zufall wollte, war zumindest eines seiner Gebete erhört worden. Auf einem Tisch im Zentrum des Lokals lag – mit weit von sich gestreckten Gliedern und von Kopf bis Fuß in seinem eigenen Blut und seinen eigenen Eingeweiden – Jefe. Es war schwierig zu sagen, ob er nun besser aussah, nachdem er seine Freddy-Krueger-Maske verloren hatte. Er sah mehr
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