Das Buch Rubyn
Doch dann brach er ab. »Warte mal – wo ist Emma? Meine Schwester? Und wo ist die Chronik?«
»Dein riesenhafter Freund hat sie nach unten getragen. Er hat dieses vermaledeite Buch mitgenommen. Ich hätte nichts dagegen, wenn ich dieses blöde Ding nie mehr zu Gesicht bekäme!«
»Gabriel? Geht es ihm gut?«
»Bestens. Soll ich die Brille nicht einfach wegwerfen? Einverstanden?«
»Nein! Ich brauche sie! Bitte.«
»Oh, wie du willst.« Das Elfenmädchen tänzelte herüber und reichte ihm die Brille. »Der Rest der Welt mag bei deinem Anblick erschauern, aber in meinen Augen wirst du stets der hübscheste Mann von allen sein. Vorausgesetzt natürlich, ich schaue dir nicht zu oft ins Gesicht.« Sie machte einen Knicks. »Prinzessin Wilamena, zu deinen Diensten.«
»Du bist … eine Prinzessin?«
»Aber gewiss doch! Warum, glaubst du, wollte ich unbedingt meine Krone wiederhaben?« Sie berührte den goldenen Reif, der jetzt auf ihrem Haupt saß. »Findest du, dass sie mir steht?«
»Was? Oh ja, sicher … sehr gut.«
Mit der Brille auf der Nase konnte Michael das Elfenmädchen endlich deutlich erkennen. Sie war das genaue Ebenbild der Eisskulptur von der Lichtung. Ihr Haar, fand er, hatte die Farbe von Morgenlicht. Ihre Augen waren blauer als ein wolkenloser Sommerhimmel. Ihre Nase …
Moment mal – blauer als ein wolkenloser Sommerhimmel?, dachte Michael. Was ist bloß in mich gefahren? Sie hat blonde Haare und blaue Augen, mehr nicht.
Aber schon musste er insgeheim ihre Stimme mit Vogelgezwitscher vergleichen und die weiße, reine Haut mit frisch gefallenem Schnee …
Aufhören , befahl er sich. Du bist von irgendeinem Elfenzauber befallen, das ist alles.
»Oh, wie herrlich!«, rief das Elfenmädchen und klatschte in die Hände. »Du hast dich schon in mich verliebt!«
»Das habe ich nicht …«
»Ach, sei nicht dumm. Du solltest diesen lächerlichen Ausdruck auf deinem Gesicht sehen. Übrigens, ist dir schon aufgefallen, wie sanft sich mein Haar in der Brise wiegt?«
»Hör mal«, sagte Michael mit so viel Strenge, wie er aufbringen konnte. »Ich will von dir eine Garantie dafür, dass du dich nicht wieder in einen Drachen verwandelst. Also, wie steht’s?«
Bei diesen Worten wurde das Gesicht der Elfenprinzessin ernst. Sie bückte sich und hob das zerschnittene goldene Band auf, das inmitten der Trümmer lag. Michael sah, dass es geschrumpft und nur noch so groß wie ein Armreif war. In den zarten Händen der Elfe sah es klobig und unschön aus. Wilamena fuhr mit den Fingern über den Schnitt, den Michaels Messer gezogen hatte.
»Es ist fast zweihundert Jahre her, dass ich Xanbertis im Wald begegnete. Er bot mir dieses Armband als Zeichen der Freundschaft zwischen dem Orden und meinem Volk an. Ich hatte keine Ahnung von den schrecklichen Taten, die er begangen hatte. Ich nahm es an und wurde so zu seiner Sklavin. Zwei Jahrhunderte voller Dunkelheit und Feuer. Eine Gefangene in meinem eigenen, grausigen Körper. Aber das ist Vergangenheit. Der Drache ist tot. Und ich bin erlöst – dank dir!«
Mit tränenfeuchten, bewundernden Augen blickte sie zu ihm auf.
Und Michael dachte: Das arme Ding hat eine schlimme Zeit hinter sich.
Dann dachte er: Ihr Haar bewegt sich wirklich ganz entzückend …
Die Elfenprinzessin klatschte wieder freudig in die Hände.
»Oh, du bist doch in mich verliebt?«
»Was? Nein, ich wollte bloß …«
»Doch, bist du! Mein Häschen!«
»Bitte nenne mich nicht Häschen!«
»Hasi!«
Und mit einem graziösen Hüpfer war sie an seiner Seite und küsste ihn auf die Wange. Michael wich taumelnd zurück.
»Und das lass bitte auch bleiben! Ich meine es ernst!«
Seine Wangen brannten, und dort, wo sie ihn geküsst hatte, kribbelte seine Haut.
»Du hast recht«, sagte sie. »Zum Küssen haben wir später noch Zeit – viel Zeit!
Jetzt habe ich aber genug von diesem Unsinn, dachte Michael.
»Ich will meine Schwester sehen, und zwar sofort.«
Sie fanden Emma im Quartier des Wächters, einem niedrigen Gebäude an der hinteren Mauer der Festung. Die Möblierung war einfach – eine Holzkiste, ein schmales Bett, ein Stuhl und ein Tisch –, aber gemessen an der schlampigen Erscheinung des Wächters, war diese Unterkunft überraschend sauber und ordentlich. Gabriel hatte Emma auf das Lager gebettet und etliche Decken über sie gebreitet. Als Michael und die Elfenprinzessin eintraten, saß er neben Emma und hielt ihre kleine, leblose Hand in seinen riesigen Pranken. Michael
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