Das Buch Rubyn
die kleinen, hasserfüllten Augen der Gnome.
Warum griffen sie nicht an?
Warum befahl der Elfenhauptmann seinen Leuten nicht, das Feuer zu eröffnen?
Angreifer und Verteidiger schienen auf etwas zu warten. Aber worauf?
Die Antwort trat in Form einer einsamen Gestalt auf, die über die Ebene geschlendert kam. Selbst aus dieser Entfernung war Rourkes in der Sonne glänzender Schädel unverkennbar. Kreischer und Gnome wichen beiseite und machten eine Gasse für ihn frei. Mit langen, sicheren Schritten stieg Rourke den Hang des Vulkans hinauf. Im Näherkommen sah Michael, dass der riesenhafte Mann eine Art Uniform trug, augenscheinlich eine altmodische Kavallerie-Uniform: hohe Lederstiefel, weit geschnittene Reiterhosen, ein khakifarbenes Hemd mit goldenen Litzen an den Schultern. In der Hand hielt er eine kurze Reitgerte.
Vor seiner Armee kam Rourke zum Stehen und hob die Peitsche.
Das Kreischen verstummte.
»Einen guten Tag wünsche ich den Besatzern der Festung!«
Gabriel antwortete ihm: »Ihr seid hier nicht willkommen. Verlasst diesen Ort. Wir geben euch nur diese eine Chance.«
Der kahlköpfige Mann lachte. »Tatsächlich? Das ist aber nett von euch.« Er beschattete seine Augen mit der Hand. »Sehe ich da nicht den lieben Michael und sein Schwesterchen Emma zwischen all diesen nervtötenden Elfen? Du meine Güte, was für eine Jagd habt ihr uns in Malpesa geliefert! Warum seid ihr denn so eilig verschwunden? Ich hätte so gerne ein wenig mit euch geplaudert.«
Der Mann sprach mit einem lässigen, leicht lispelnden Akzent, den Michael nicht einordnen konnte.
»Und ich hätte euch einen Freund vorstellen können!«
Rourke wandte sich um und Michael sah eine weitere Gestalt über die Ebene auf sie zukommen. Dieser Gestalt fehlte die Unbekümmertheit von Rourkes Gang. Sie trat langsam näher, mit kleinen, festen Schritten. Es war ein Mann, erkannte Michael, ein mittelgroßer Mann, der sich mit gesenktem Kopf näherte, als ob er auf seine Füße achten müsse. Dann, als er die großen Felsen vor dem Vulkan erreicht hatte, schaute der Mann auf. Die Sonne spiegelte sich in seinen Brillengläsern, und Michael war es, als ob ihm eine Hand in die Brust griffe und sein Herz zerquetschen würde.
Er keuchte auf und musste sich an der Festungsmauer abstützen, um nicht zu fallen.
»Michael?«, sagte Emma fragend. »Was ist los? Alles in Ordnung? Wer ist das?«
»Das … das …«
Aber die Worte wollten ihm nicht über die Lippen kommen.
Dann stand der Mann neben Rourke. Er trug ausgebleichte Jeans und ein altmodisches Hemd. Er hatte einen kurz geschorenen Bart und rotbraune Haare, die dringend geschnitten werden mussten. Er war sehr dünn; die Kleider schlotterten um seinen hageren Körper. Und er wirkte müde.
Michael fühlte, wie sich Emma neben ihm versteifte. Sie wusste Bescheid.
Trotzdem musste er es aussprechen. Wenigstens einmal.
»Das … ist unser Vater.«
Rourke legte seine riesige Pranke auf die hängende Schulter ihres Vaters. »Ich glaube, ihr ahnt schon, um wen es sich bei meinem Freund hier handelt. Ich möchte nur der guten Ordnung halber darauf hinweisen, dass er völlig unversehrt ist. Du bist so gut wie neu, nicht wahr, Richard? Nun mach schon, sag’s deinen Kindern.«
Der dünne Mann zögerte, als ob er keinen Anteil an dem Schauspiel haben wollte, das Rourke veranstaltete.
»Nicht so schüchtern, mein Freund!« In der Stimme des Riesen lagen Spott und Boshaftigkeit. »Spanne uns nicht auf die Folter. Ich bin sicher, dass sich Michael und Emma große Sorgen gemacht haben.«
Schließlich hob ihr Vater den Kopf. Michael sah, wie sein Blick über die Festungsmauer glitt und dann an ihm und Emma hängen blieb. Bei ihrem Anblick schien er in sich zusammenzusinken.
»Mir ist nichts geschehen! Uns beiden nicht. Eure Mutter und ich sind wohlauf! Es … es tut mir alles so leid.«
Die Stimme ihres Vaters war rau und krächzend, aber Michael spürte, dass sie wie der Schlüssel zu einem lang nicht mehr benutzten Schloss etwas tief in seinem Inneren öffnete.
»Es tut dir leid?«, rief Rourke aus. »Was gibt es da zu bedauern? Das sind doch gute Neuigkeiten! Ihr dürft nicht glauben, Kinder, dass wir eure Eltern nicht gerne als unsere Gäste hatten. Im Gegenteil, wir sind eine große Familie geworden! Aber wie das so ist mit der Familie, manchmal möchte man ihnen am liebsten den Schädel einschlagen, nicht wahr?« Er lachte und schlug seinem hageren Begleiter krachend auf den Rücken.
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