Das Buch Rubyn
»Aber nun zur Sache. Wir wollen ja nicht den ganzen Tag vertrödeln. Und eure Elfen haben bestimmt noch einen Termin beim Friseur. Hier ist mein Vorschlag – und ich denke, ihr werdet ihn mehr als fair finden: Die lieben Kinderchen – damit seid ihr gemeint, Michael und Emma – werden sich mit der Chronik in meine Hände begeben oder ich werde den guten alten Richard auf der Stelle töten. Irgendwelche Fragen? Nein? Großartig. Ihr habt zwei Minuten.«
So endet nun also alles, dachte Michael.
In all den Jahren hatte er sich immer wieder ausgemalt, wie es sein würde, seinen Vater und seine Mutter wiederzusehen. Und er hatte immer wieder das gleiche Bild vor Augen gehabt: Sie würden einander umarmen und küssen, und sie würden weinen, was Michael und sein Vater mannhaft zu verbergen versuchten. Und dann, nachdem seine Schwestern und seine Mutter sich zurückgezogen hätten, um »Frauenangelegenheiten« zu besprechen (wobei Michael nicht sicher war, worum es sich dabei handelte – vielleicht um weitere Küsse und Umarmungen), würde er seinem Vater sein Buch überreichen, Alles über Zwerge , und ihm sagen, dass er es für ihn aufbewahrt hatte. Und sein Vater würde sagen: »Aber es gehört dir!« Woraufhin Michael erklären würde: »Ich brauche es nicht. Ich kann es auswendig.« Und nachdem sich sein Vater genügend beeindruckt gezeigt hätte, würden sie sich zusammensetzen und den ganzen Abend lang über Zwerge reden. Das Wiedersehen fand nämlich stets am Abend statt.
Als Michael seine Fantasie einmal Emma anvertraut hatte, schüttelte sie nur den Kopf und meinte, sie hätte noch nie etwas so Dämliches gehört; Zwerge seien doch gar nicht so toll, wie er immer behauptete. Emma hatte nicht begriffen, dass es gar nicht um Zwerge ging, sondern darum, dass sein Vater erkannte, wer Michael war, und er ihn dafür schätzen und lieben würde. Er würde glücklich darüber sein, den Abend in Gesellschaft seines Sohnes zu verbringen. Darum ging es, nur darum. Mehr wollte Michael nicht. Und es war völlig egal, ob sie sich über Zwerge, Erdbeben oder Libellen unterhielten.
Nichts davon würde wahr werden. Jetzt nicht mehr.
»Erschießt doch diesen Kahlkopf endlich!«, schrie Emma Gabriel und den Elfenhauptmann an. »Er steht doch bloß da! Worauf wartet ihr eigentlich?«
»Es geht nicht«, sagte Michael. »Dann würden die Kreischer unseren Vater töten.«
»Aber …«
»Dein Bruder hat recht. Euer Vater würde es niemals bis in die Festung schaffen.« Gabriel kniete sich hin, sodass er auf Augenhöhe mit den Kindern war. »Ich werde nur so viel sagen: Wenn es nach mir ginge, würde ich euch nie im Leben dem Feind überlassen. Aber das ist eure Entscheidung und sie ist entsetzlich. Welche Wahl ihr auch trefft, ich werde mich euch nicht in den Weg stellen.«
Michael schaute zu seiner Schwester. »Was meinst du?«
Emma biss sich auf die Unterlippe und schaute fiebrig von Michael zu Gabriel und wieder zu Michael. »Ich … ich weiß es nicht. Was … was meinst du?«
Also war es an ihm. Genauso, wie es an Kate gewesen wäre, wenn sie bei ihnen hätte sein können. Unwillkürlich musste Michael an die Worte von König Killick denken: Ein großer Führer lebt nicht in seinem Herzen, sondern in seinem Kopf. Michael glaubte daran. Er wusste, dass sein Vater daran glaubte. Er wusste ebenfalls, dass die Chronik des Lebens nie dem grässlichen Magnus in die Hände fallen durfte. Wenn das geschah, war alles verloren.
Also lag der Weg klar und deutlich vor ihm.
Es gab nur ein Problem. Michael konnte nicht zulassen, dass man seinen Vater umbrachte.
Ich werde mich selbst und die Chronik im Tausch gegen Vaters Freiheit anbieten, dachte er. Aber nicht Emma.
»Die Zeit ist um!«, rief Rourke.
Michael fühlte Gabriels Hand auf seiner Schulter. Er hob den Kopf und blickte den großen Mann an. Stumm bat er um Verzeihung und Gabriel nickte.
Dann sagte Gabriel: »Tu mir einen Gefallen. Bitte darum, mit deinem Vater reden zu dürfen. Je länger wir die Sache herauszögern können, desto besser. Vielleicht kommt der Zauberer noch rechtzeitig.«
»Ja«, sagte Emma eifrig. »Das ist eine tolle Idee! Geh zu ihm und rede und rede, so lange du kannst. Sei richtig langweilig. Das schaffst du bestimmt.«
Michael hatte seine Entscheidung getroffen und er wollte es nur noch hinter sich bringen. Dennoch gab er nach und fügte sich ihrer Bitte. Wenn es nicht funktionierte, war er zum Äußersten bereit. Er schaute den Abhang
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