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Das Buch Rubyn

Das Buch Rubyn

Titel: Das Buch Rubyn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Stephens
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nicht.«
    Die Spitze des Griffels war rot verschmiert. Michael packte den Knochenstab fester. Dann zögerte er.
    »Schreibt sich Xanbertis mit einem X oder mit einem K am Anfang?«
    »Was?«
    »Wahrscheinlich mit X. Na egal, das Buch wird es schon wissen.«
    Michael setzte die blutige Spitze auf die leere Seite.
    Ein Zittern fuhr durch seinen Körper, genauso wie bei Emmas Heilung, und mit einem Mal sah er den Wächter wie unter einem Mikroskop. Er konnte jedes einzelne Haar seines Barts sehen, hörte die Käfer in seiner Tasche scharren, roch den viele Wochen alten Schmutz und Schweiß – was er auch vorher konnte, aber nicht in dieser Intensität. Er fing an zu schreiben. Die Worte glimmten und versengten die Seite. Er fühlte die Macht des Buches in sich aufsteigen.
    Michael setzte den Griffel ab. Der halbe Name stand in glühenden Buchstaben vor ihm auf der Seite. Er fühlte, dass der Mann ihn beobachtete, dass er abwartete. Und vielleicht war es der Wunsch, keine Schwäche zu zeigen, oder die Erinnerung an das Versprechen, das er Wilamena gegeben hatte, oder einfach nur Sturheit, jedenfalls kritzelte er hastig die fehlenden Buchstaben hin und die Magie erhob sich und trug ihn davon …
    Michael war ein junger Mann in einer mächtigen Stadt am Meer. Die niedrigen, rotbraunen Gebäude, die sich um einen hohen Turm drängten, waren von einer Stadtmauer umgeben. Zu diesem Turm lenkte der junge Mann seine Schritte, denn er war in den Orden berufen worden. Seine Erregung, sein Stolz und seine Furcht waren Michaels Erregung, Stolz und Furcht.
    Und Michael fühlte die Liebe des jungen Mannes zu seinen neuen Brüdern, seine Dankbarkeit für das große Vertrauen, das ihm und den anderen Wächtern entgegengebracht wurde. Als Alexanders Armee angriff, spürte Michael den Zorn, die Trauer und die Scham des jungen Mannes, als er und drei andere mit der Chronik des Lebens flüchteten und ihre verwundeten und toten Brüder zurückließen.
    Michael blieb an der Seite des Mannes, der nicht länger jung war, während er und seine verbleibenden Brüder die Chronik über den Ozean nach Süden brachten. Er fühlte die eiserne Entschlossenheit, mit der sie das eisige Land durchmaßen, und Michael war auch bei ihnen, als sie in dem schneebedeckten Tal der Elfen ankamen. Er fühlte das Staunen des Mannes, als die Chronik den Vulkan zum Leben erweckte und das Tal grün und fruchtbar machte.
    Jahrzehnte, Jahrhunderte vergingen.
    Und dann war da der Same des Wahnsinns, der Wurzeln schlug, wuchs und sich schließlich wie eine alles erstickende Ranke um den Geist des Wächters schlang. Es war nicht Gier, die in seinem Herzen saß – und nun auch in Michaels Herzen – sondern Angst. Angst, dass jemand die Chronik an sich reißen würde. Anfangs richtete sich diese Angst gegen die Welt da draußen, aber als die Jahre vergingen, fand diese Angst Feinde im Inneren. Er – der Mann, Michael – glaubte in seinen Brüdern das Verlangen nach der Chronik zu erkennen. Er allein konnte das Buch beschützen. Er allein war sein Wächter. Es war seine Pflicht, seine Verantwortung. Und dann stand Michael hinter einem seiner Brüder, das gezückte Messer in der Hand …
    Michael fühlte, wie er in eine bodenlose Dunkelheit fiel. Er versuchte, sich zurückzuziehen, versuchte, sich zu retten, aber es gab nichts, woran er sich hätte festhalten können. Er ertrank in der Verzweiflung und der Schuld des Mannes. Es war zu viel. Der Mann hatte recht gehabt: Er, Michael, war nicht stark genug. Michaels letzter Gedanke galt Kate und Emma. Er hatte sie schon wieder im Stich gelassen …
    »Michael!«
    Er schlug die Augen auf. Emma beugte sich über ihn und hielt einen Eimer in der Hand. Michaels Kopf und seine Brust waren klatschnass. Emma warf den Eimer beiseite und umarmte ihn fest.
    »Du lebst! Gott sei Dank! Ich hatte solche Angst!«
    Eine Weile tat Michael nichts anderes, als sich von Emma umarmen zu lassen. Nach und nach kam er wieder zu sich. Er war also nicht tot. Und er war nicht mehr im großen Saal des Bergfrieds. Jemand hatte ihn in den Innenhof der Festung gebracht.
    »Ich … ich muss mich aufsetzen.«
    Emma stützte ihn und Michael richtete sich auf. Er fühlte sich zerbrechlich und leer, als ob er bei der kleinsten Erschütterung in seine Bestandteile zerfallen würde. Er wollte sich daran erinnern, was geschehen war, merkte aber, dass er dazu noch nicht bereit war. Nicht jetzt. Vielleicht niemals. Er war am Leben, das war die Hauptsache.
    Er sah

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