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Das Buch Rubyn

Das Buch Rubyn

Titel: Das Buch Rubyn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Stephens
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leben. Wir haben ihm die Möglichkeit gegeben, Buße zu tun. Er hat uns sogar freiwillig das Buch überlassen. Er war bereit zu sterben.« Michael schaute Emma an. »Es klingt unlogisch, ich weiß.«
    Aber Michael wusste Dinge, von denen Emma keine Ahnung hatte. Er trug das Leben des Wächters in sich. Auch wenn er es Emma nicht begreiflich machen konnte, so wusste er doch, was es für den Wächter bedeutet hatte, diese Last abzuwerfen.
    »Michael … was hat er dir gesagt, bevor er starb? Ich konnte nicht alles verstehen.«
    Michael dachte an die geflüsterten Worte des Wächters: Das Buch wird dich verändern.
    Aber wie verändern? , fragte sich Michael. Und in was?
    Schulterzuckend sagte er: »Er meinte nur, ich solle die Chronik beschützen.«
    Beide schwiegen eine Weile, dann fragte Emma: »Sag mal, muss man jemanden gut kennen, um ihn zu heilen?«
    »Ich sagte dir doch, er wollte es nicht. Außerdem ist es zu spät …«
    »Ich meine doch gar nicht den Wächter. Ich habe bloß nachgedacht.« Emma packte Michael am Arm. »Woher wollen wir eigentlich wissen, dass die Prinzessin tot ist?«
    Michael stieß einen Schrei aus und zerrte das Buch Rubyn aus seiner Tasche. Er verfluchte sich selbst, dass er nicht früher daran gedacht hatte. Er riss den Griffel aus der Halterung und wollte sich gerade in den Daumen stechen, als er zögerte. So sehr er die Prinzessin retten wollte, so sehr ängstigte ihn die Vorstellung, den Schmerz einer weiteren Person in sich aufzunehmen.
    Wieder dachte er an die Worte des Wächters: Das Buch wird dich verändern. Denk immer daran, wer du bist.
    »Michael? Was ist denn los? Was ist denn?«
    »Jedes Mal … jedes Mal, wenn ich einen Namen in das Buch schreibe, nehme ich das ganze Leben dieser Person in mir auf. Ich fühle, was der andere gefühlt hat. Bei dem Wächter fühlte ich, wie er empfunden hatte, als er seine Brüder ermordete. Ich fühle alles.«
    Emma ließ seinen Arm los. »Bei mir auch?«
    Michael schaute seine Schwester an. Sie betrachtete ihn mit weit aufgerissenen Augen. Um ihren Kopf stand ein rötlicher Schimmer. Er nickte knapp. Und dann sprudelten die Worte aus ihm heraus. Seit er sie aus ihrem todesähnlichen Schlaf erweckt hatte, hatte sich eine wahre Flut aus Emotionen aufgestaut. »Ich weiß jetzt, was ich dir angetan habe, als ich dich und Kate an die Gräfin verriet. Damals wusste ich es nicht. Ich hatte keine Ahnung. Jetzt schon. Und ich verspreche dir: Was immer geschieht, ich sorge dafür, dass du mir wieder vertraust. So wie früher. Ich verspreche es.«
    Noch ehe Emma etwas darauf erwidern und noch ehe er es sich anders überlegen konnte, stach er sich in den Daumen, schrieb Wilamenas Namen in rauchenden, blutigen Buchstaben auf die Seite – und da war sie, die Macht der Chronik des Lebens, und riss ihn mit sich.
    Michael hatte geglaubt, dass die Chronik ihn in den Wald führen würde, wo Wilamena abgestürzt war, aber er fand sich in einer Welt aus Eis und Schnee wieder. Er erkannte die Biegung des Tals, den hoch aufragenden Ring aus Bergen, aber es gab weder Bäume noch Vögel. Alles war kalt und still und weiß. Michael sah Wilamenas Leben vor sich, wie es am Anfang gewesen war. Er konnte jede einzelne Schneeflocke sehen, jeden Eiskristall.
    Dann veränderte sich die Welt: Die Elfenprinzessin schaukelte auf einem dünnen Zweig hoch oben in einem Baum. Michael war bei ihr, und genauso wie er die Schneeflocken und das Eis in einem anderen Licht betrachtet hatte, so sah er die Blätter und Nadeln an den Bäumen mit ganz neuen Augen. Die Vögel antworteten auf Wilamenas Ruf und sie hob ihr Gesicht der Sonne entgegen. Michael hätte sich nie träumen lassen, dass sein Herz so übervoll sein konnte.
    Dann kam die Dunkelheit. Michael erkannte die Höhle, den Lavasee, den Tunnel hinauf zum Bergfried. Er fühlte den Leib des Drachen, wie die Prinzessin ihn empfunden hatte: als immerwährendes Gefängnis. Er erlebte, wie sie Tag für Tag darum kämpfte, nicht die Erinnerung an den Schnee und die Bäume und die Sonne zu verlieren, aber es war, als wollte man eine Kerzenflamme auf einer windgepeitschten Ebene am Erlöschen hindern.
    Und dann, ohne Vorwarnung, lag Michael auf dem Waldboden, umgeben von zersplitterten Bäumen. Er fühlte, wie Wilamenas Herz – sein Herz – das Blut aus dem Leib pumpte, sah, wie es sich zu einer dunklen Pfütze auf einem Bett aus zerdrückten Farnen sammelte.
    Lebe , flehte er. Oh bitte, bitte, lebe …
    »Michael!«
    Er war wieder

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