Das Buch Rubyn
geheimnisvollen Gegenstand aus der Sänfte zurückgelassen hatten. Er wollte plötzlich unbedingt wissen, was das war.
»Warte auf mich.«
»Was? Nein, Michael, nicht …«
Emma wollte ihn festhalten, aber Michael rannte bereits geduckt über die Lichtung. In dem Moment, als er den Gegenstand erreichte, gellte ein weiterer Schrei durch das Tal. Es klang viel näher als beim letzten Mal. Was immer diesen Schrei ausstieß, bewegte sich auf sie zu.
Trotzdem blieb Michael eine ganze Weile einfach stehen und starrte den Gegenstand an. Es war eine Figur aus Eis. Ein Elfenmädchen. Sie musste etwa in Michaels Alter sein und ihr kristallklares Haar fiel in sanften Wellen über ihren Rücken. Sie lächelte fröhlich. Obwohl Michaels Verachtung der Elfen einen neuen Höhepunkt erreicht hatte, musste er zugeben, dass sie das schönste Wesen war, das er je gesehen hatte. Er streckte die Hand aus und fuhr mit dem Finger über den Arm des Elfenmädchens. Er fühlte die Kälte und die Nässe, als das Eis zu schmelzen begann. Ein schmaler goldener Reif, wie eine zierliche, schlichte Krone, saß auf ihrem Kopf. Ohne sich dessen bewusst zu sein, griff Michael danach und nahm den Reif an sich. Das Elfenmädchen aus Eis wirkte so lebendig, dass es Michael nicht verwundert hätte, wenn sie dagegen protestiert hätte. Natürlich tat sie es nicht und als Michael den goldenen Reif in seinen Händen betrachtete, erkannte er, dass er aus Dutzenden von hauchzarten, miteinander verwobenen Goldfäden gemacht war.
Was hatte das alles zu bedeuten?
Ein neuerlicher Schrei riss Michael aus seinen Gedanken. Diesmal klang es ganz nah. Dieses Ding kam auf sie zu, und zwar schnell.
»Michael!«
Emma rannte zu ihm. Ohne nachzudenken, steckte Michael den goldenen Reif in seine Tasche. Er schrie Emma zu, sie solle umkehren, als ein Ruf ertönte. Michael drehte sich um und sah Gabriel aus der entgegengesetzten Richtung auf die Lichtung stürmen.
»Runter!«, brüllte der Mann. »Runter! Lasst euch fallen!«
Wieder dieser Schrei, diesmal fast über ihren Köpfen. Bevor Michael nach oben schauen konnte, wurde er grob zu Boden gestoßen.
»Liegen bleiben«, befahl Gabriel.
Emma rief immer noch nach ihrem Bruder, und Michael, der flach auf dem Boden lag, hörte das Rauschen von mächtigen Schwingen. Er hob den Blick, schaute an Gabriel vorbei, und sah, wie ein riesiges Ungetüm aus dem Nachthimmel herabstieß, seine Schwester packte und sich mit ihr wieder in die Luft erhob.
»He, wach auf! Komm schon, wach auf!«
Abigail, die Kleine, die ihr beim Einkleiden geholfen hatte, beugte sich über Kate und rüttelte sie.
»Ich bin wach«, sagte Kate benommen.
Ringsum in der alten Kirche begann ein neuer Tag. Kinder machten ihre Betten, entzündeten Feuer in den Öfen und fegten den Steinboden sauber. Es war so kalt, dass Kate den Atem vor ihrem Gesicht sehen konnte.
»Rate mal, was passiert ist«, forderte Abigail sie auf.
»Hat es angefangen zu schneien?« Kate gähnte. Sie griff unter ihr Kopfkissen, wo sie vor dem Schlafengehen das Medaillon ihrer Mutter versteckt hatte, und schob es in ihre Tasche.
»Nein. Das heißt, ja schon. Es hat die ganze Nacht geschneit. Aber das meine ich nicht. Rafe war gerade hier.« Abigail konnte ihre Aufregung kaum bezähmen. »Und er hat gesagt, dass Miss B heute ein großes Fest geben will, weil doch Silvester ist und die Nacht der großen Trennung und überhaupt!«
»Oh!« Kate schaute sich um, aber Rafe war nirgends zu sehen.
»Als wir das letzte Mal ein Fest gefeiert haben, hat Scruggs ein Feuerwerk gemacht. Er hat einen Gnom herbeigezaubert. Viele Kinder haben Angst gekriegt und geschrien. Ich nicht. Na ja, jedenfalls nicht sehr. Wenn er das noch mal macht, werde ich überhaupt nicht schreien. Zieh deine Stiefel an, wir wollen frühstücken. Mensch, du trödelst aber ganz schön! Bist du morgens so langsam, weil dir kalt ist?«
Das Frühstück wurde an zwei langen Tischen im Erdgeschoss serviert. Es gab Rührei, Kartoffeln und in dicke Scheiben geschnittenes geröstetes Brot. Die Köchin war ein dreizehnjähriges Mädchen, das eine ganze Armee von jüngeren Kindern beschäftigte, die ihre Aufgabe sehr ernst zu nehmen schienen. Alle redeten nur von dem Fest, das am Abend stattfinden würde, und wie ihr Leben nach der Trennung werden würde.
»Wenn die magische Welt unsichtbar wird«, sagte ein kleiner Junge, dessen Haare in alle Richtungen abstanden, »heißt das dann, dass wir auch unsichtbar
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