Das Buch Rubyn
nicht gebraucht. Mir war nicht kalt …«
»Die Mütze soll dich nicht bloß warm halten. Setz sie auf.«
Kate fasste ihre Haare zusammen, schob sie nach oben und zog die Mütze darüber. Rafe streckte die Hand nach ihrem Gesicht aus und sie wich zurück.
»Halt still.«
Er schob ein paar blonde Haarsträhnen unter die Mütze und sie fühlte seine Fingerspitzen an ihren Ohren.
»Okay. Jetzt zeig mir deine Hände.«
Sie streckte die Hände aus und er nahm sie und betrachtete sie von allen Seiten. Ihr fiel auf, wie sauber und weiß ihre Hände im Vergleich zu seinen waren. Vor dem Stand nebenan brannte ein kleines Feuer. Rafe bückte sich, schaufelte vom Rand des Feuers ein bisschen abgekühlte Asche und Ruß auf die Hand und rieb ihr den noch warmen schwarzen Puder über die Handflächen, Finger und über die Handrücken. Dann streckte er erneut seine Hände nach ihrem Gesicht aus. Diesmal hielt Kate still, obwohl sie zu ihrem Unmut wieder das Beben in ihrer Brust verspürte, und ließ es zu, dass seine Finger über ihre Stirn und ihre Wangen strichen. Währenddessen betrachtete sie sein Gesicht, seine tiefen grünen Augen, die leicht gekrümmte Nase, und sie bemerkte, dass er sich alle Mühe gab, ihrem Blick auszuweichen. Sie hatte das Gefühl, dass er genauso nervös war wie sie. Er trat zurück und klopfte sich die rußgeschwärzten Hände an den Hosenbeinen ab.
»So. Jetzt könntest du in aller Ruhe an einem Gnom vorbeilaufen, ohne dass er dich erkennen würde.«
»Danke«, sagte Kate mit schwacher Stimme.
»Was ist das?
Es dauerte einen Moment, bis Kate begriff, was er in der Hand hielt. Dann sah sie, dass es das Medaillon ihrer Mutter war. Er musste es aus ihrer Tasche gezogen haben, während er ihre Kleidung überprüfte. Rafe klappte es auf und betrachtete das zehn Jahre alte Foto von ihr, Michael und Emma.
»Gib das her!«
Kate riss ihm das Medaillon aus der Hand und umklammerte es mit ihrer Faust.
»Ich wollte es dir nicht stehlen«, sagte der Junge. »Aber du solltest dir eine Kette besorgen, statt es in deiner Tasche zu tragen. So könntest du es leicht verlieren.«
»Ich hatte eine Kette«, sagte Kate wütend. »Ich habe sie für diesen Mantel eingetauscht.«
»Ach ja? Na, wenn’s eine Goldkette war, hat man dich ausgeraubt.«
»Mit Ausrauben kennst du dich ja bestens aus, nicht wahr?«
Ihr Gesicht brannte. Die Nervosität war wie weggeblasen.
»Also, wer ist das? Die auf dem Bild, meine ich.«
Kate starrte ihn an und überlegte, ob sie antworten sollte. »Mein Bruder und meine Schwester«, sagte sie schließlich. »Das Bild wurde vor zehn Jahren aufgenommen. Sie sind der Grund, warum ich zurück muss.«
»Was ist mit deinen Eltern? Wo sind die?«
Kate schwieg und der Junge schien zu begreifen. Ein paar Sekunden lang standen sie stumm da, dann sagte Kate: »Was ist jetzt? Ich habe Hunger.«
Sie wandte sich ab, aber Rafe legte seine Hand auf ihren Arm. »Ich bringe dich zu den anderen.«
Er bog in eine schmale Gasse ein und ging ihr voraus zu einer Treppe, die zu einer Tür mit einem Symbol führte, das Kate nicht kannte.
»Da ist es.«
Kate wollte sich wortlos abwenden, als der Junge sagte: »Ich hätte das Medaillon nicht nehmen dürfen. Es tut mir leid.«
Kate blieb stehen, zwei Stufen über ihm. Sie wusste ohne den Schatten eines Zweifels, dass er wegen ihr nach Chinatown gekommen war und es ihm wirklich leid tat. Sie dachte an ihre Begegnung mit Scruggs heute Morgen und hörte sich sagen: »Komm doch mit rein.«
Er schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht hungrig.«
»Aber du hast doch noch nichts gegessen, oder? Wie ich gehört habe, kriegt man hier das beste Essen in ganz Chinatown.«
Er betrachtete sie einen Moment schweigend, dann nickte er, ging an ihr vorbei und öffnete die Tür. Zwei bodenlange, dicke, gewebte Vorhänge hingen hinter der Eingangstür. Sie hielten die Kälte ab. Rafe wartete, bis Kate die Tür hinter sich geschlossen hatte. Einen Augenblick lang standen sie dicht beieinander in dem engen Raum zwischen Tür und Vorhang. Dann schob Rafe die Stoffbahnen beiseite und gemeinsam traten sie ein.
Drinnen war es laut, voll und verräuchert. In der Luft hing schwer der Geruch nach Bratenfett, Zwiebeln und Ingwer. Die Bänke an den langen Tischen waren voll besetzt, und am anderen Ende des Restaurants befand sich eine Theke, hinter der etwa ein Dutzend Köche Bestellungen entgegennahm und lautstark weitergab, während dampfende Schüsseln in die Hände der
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