Das Buch Rubyn
»Es tut mir leid. Es tut mir so leid.« Plötzlich wurde ein Teil des Dachs weggerissen. Michael sah den Drachen in der Luft schweben, bereit für einen neuerlichen Angriff. Er warf sich über seine Schwester, um sie zu schützen, aber der Drache blieb, wo er war. Er benutzte seinen mächtigen Schwanz wie einen Morgenstern und schlug damit den Rest des Daches in Trümmer. Nach wenigen Sekunden lag der Treppenabsatz, auf dem sich Michael und Emma befanden, im Freien. Der Drache ließ sich auf der Mauer nieder.
Etwas landete neben seinen Füßen.
»Da, Häschen. Ich habe dir versprochen, dass du einen Blick auf die Chronik werfen darfst, und ich halte meine Versprechen.«
Michael sprang auf und stellte sich vor Emma. Dann zog er das Messer, das Gabriel ihm gegeben hatte. Von Angesicht zu Angesicht der mächtigen Kreatur gegenüber raubte allein ihre Größe Michael den Atem. Obwohl er sich auf alle viere niedergelassen hatte, türmte sich der Drache immer noch über dem Jungen auf. Michael war winzig, verglichen mit der Echse. Er war klein, kleiner als ein Hase. Aber er wich nicht zurück, obwohl ihm die Beine zitterten.
Der Drache betrachtete ihn durch schmale, blutrote Augenschlitze.
»Ich will dich wirklich nicht fressen, Häschen. In einem anderen Leben hätten wir Freunde sein können. Aber ich habe nicht die Macht, mich dem Willen meines Meisters zu widersetzen.«
»Ich …«, stammelte Michael, »habe keine Angst vor dir.«
»Oh doch, die hast du. Aber du versuchst, sie zu unterdrücken. Und das ist es, was zählt. Weil du so mutig bist, gestatte ich dir, mich ein einziges Mal mit deiner kleinen Nadel zu kitzeln, bevor ich dich töte. Tritt näher.«
Michael machte einen zögernden Schritt nach vorn. Er fühlte die Hitze von dem Drachenleib aufsteigen. Die Kreatur hatte recht. Er fürchtete sich zu Tode. Aber er war auch wütend. So sollte es nicht enden: er und Emma getrennt von Kate; Emma leblos und unfähig, sich zu wehren; er ganz allein.
»Du hast ja keine Ahnung!«, schrie er. Die Tränen liefen ihm über die Wangen. »Du weißt nichts über uns! Über mich und meine Schwestern – warum wir das alles tun. Du bist … du bist bloß ein blöder Wurm!«
»So ist’s gut, Häschen. Lass deinem Zorn freien Lauf. Dein Tod wird so rasch sein, dass du es nicht einmal merken wirst. Jetzt stich zu.«
Im dampfenden Atem des Drachen beschlugen Michaels Brillengläser. Aber als er das Messer hoch über seinen Kopf hob, sah er wieder das goldene Band um das Fußgelenk des Drachen. Er zögerte. Wenn das Band tatsächlich aus Gold bestand, hätte es doch in der Lava schmelzen müssen. Es sei denn, dachte Michael, es war verzaubert, genauso wie das Eisengitter. Pötzlich kam ihm das Lied der Elfen in den Sinn, das er auf der Lichtung gehört hatte:
» … Tief unter dieser hässlichen Haut
steckt noch die Prinzessin.
Bitte komm zurück, oh komm zurück!
Tausch dein golden Band für dies.«
Der Drache hatte von einem Fluch gesprochen, mit dem der Wächter die Elfenprinzessin belegt hatte …
Und der Drache war ein Mädchen …
Aber war das möglich? War das wirklich möglich?
»Stich zu, Häschen! Jetzt gleich! Jetzt oder nie!«
Ihm blieb keine Zeit mehr zum Zögern oder Nachdenken. Michael stieß mit dem Meser nach unten. Er spürte, wie das Messer durch das goldene Band schnitt und tief hinein in das Bein des Drachen. Der Drache kreischte wutentbrannt auf und stieg in die Höhe. Die Fänge sirrten durch die Luft. Michael kniff die Augen zu und wartete darauf, von diesen Krallen zerfetzt zu werden.
Ich habe mich geirrt. Ich bin tot. Emma ist tot. Ich habe uns beide umgebracht.
Und er verspürte eine unbändige, niederschmetternde Traurigkeit, die größer und mächtiger war als seine Angst vor dem Tod. Er hatte versagt. Er hatte seine Schwestern im Stich gelassen.
Dann vernahm er ein Stöhnen. Etwas fiel auf den Treppenabsatz. Michael öffnete die Augen. Der Drache war verschwunden. An seiner Stelle lag inmitten der Trümmer des Turms ein Mädchen, eine Elfe, das Ebenbild der Eisfigur von der Lichtung. Und neben ihr lag ein rot schimmerndes Buch.
Also, dachte Michael, da soll mich doch …
Und dann wurde er ohnmächtig.
» Trennung. So nennen sie es. Ich nenne es Kapitulation. Es ist feige und niederträchtig. Wir sind Löwen, die vor Ratten den Schwanz einziehen. Die Natur selbst müsste bei diesem Gedanken aufbegehren. Zigarre?«
Rourke zog ein Lederetui aus der Innentasche seines
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