Das Buch Rubyn
zu, Krallen und Zähne blitzten. Michael duckte sich entsetzt. Und dann tat er etwas. Er tat es, ohne nachzudenken, aber zweifellos rettete es ihm das Leben. Er hielt den goldenen Reif über die kochende Lava.
» Ich werfe ihn hinein! «
Der Drache landete ein Fußbreit hinter ihm. Die Wucht seines Leibs erschütterte den Felsen. Michael fühlte den Atem des Ungetüms wie den heißen Windhauch einer Esse. Er verbrannte die kleinen Härchen in seinem Nacken. Der Drache roch nach glühendem Eisen, Schwefel und nach etwas anderem, das Michael nicht so recht einordnen konnte. Es kam ihm fast vor wie … Parfüm?
Einen Augenblick sagte keiner von beiden etwas.
»Dann wirf es hinein«, knurrte der Drache schließlich. »Mir ist es egal.«
»Nein, ist es nicht!« Alles an Michael zitterte, seine Hand, seine Beine, seine Stimme. »Es wird in der Lava schmelzen, und zwar sofort. Wenn ich es fallen lasse, wirst du es niemals bekommen.«
»Wenn du das tust«, sagte der Drache, »bringe ich dich um.«
»Aber du willst mich doch sowieso umbringen.«
»Richtig. Aber wenn du schon sterben musst, kannst du mir ebenso gut die Krone geben. Sei kein schlechter Verlierer.«
Michaels Arme wurden schwer. Er schaute nach unten und sah eine mächtige Kralle nur wenige Zentimeter von seinem rechten Fuß entfernt. Zu Michaels Überraschung lag eng um das Fußgelenk des Drachen ein goldenes Band, fast wie ein Armreif. War das der Grund, warum der Drache den goldenen Reif unbedingt haben wollte? Damit er auch einen für sein linkes Fußgelenk hatte? G. G. Greenleaf hatte recht. Drachen waren entsetzlich eitle Geschöpfe.
»Na, komm schon, Häschen. Gib mir die Krone und ich verspreche, dass ich dich sehr schnell – und gleichmäßig – durchbraten werde.«
»Warte! Ich will die Chronik sehen! Wenn ich schon sterben muss, dann will ich sie wenigstens einmal sehen. Das musst du mir zugestehen.«
»Und dann gibst du mir die Krone?«
»Ja.«
»Schwörst du es?«
»Ja.«
»Worauf willst du schwören? Was ist dir am wichtigsten?«
»Meine Schwestern«, sagte Michael ohne zu zögern. »Ich schwöre beim Leben meiner Schwestern.«
»Dann ist es abgemacht, Häschen.«
Michael hörte das Kratzen der Krallen, die sich vom Fels abstießen, und als er sich umdrehte, sah er, wie der Drache abhob. Einen Augenblick lang schwebte er über dem See. Die goldenen Schuppen spiegelten das rote Glühen der Lava wider, die breiten, ledrigen Schwingen waren weit ausgebreitet und der mit Zacken besetzte Schwanz peitschte hin und her. Michael hielt die Luft an, denn die Kreatur war trotz ihrer angsteinflößenden Erscheinung auch unbeschreiblich schön. Dann stürzte der Drache nach unten und tauchte wie ein Seehund in die brodelnde Lava.
Michael ließ den goldenen Reif fallen und rannte los.
Er rannte, wie er noch nie zuvor gerannt war und nie mehr im Leben rennen würde. Auf jener kurzen Strecke zwischen dem Drachenhort und dem Ausgang des Tunnels unterhalb des großen Saals war Michael Wibberly, der in der Schule noch nie ein Wettrennen gewonnen hatte und der immer als Letzter in eine Mannschaft gewählt wurde, der schnellste Junge der Welt.
Aber es nutzte ihm nichts.
Als er um die letzte Ecke bog, bremste er ab und blieb wie angewurzelt stehen. Seine Augen weiteten sich vor Entsetzen. Das Fallgitter am Ende des Tunnels war heruntergelassen.
Michael warf sich mit seinem ganzen Gewicht gegen die Stangen. »Gabriel! Gabriel!«
Stiefelschritte hasteten die Treppe hinunter.
»Was denn – du bist immer noch am Leben?«
Michaels Knie fingen an zu zittern. Auf der anderen Seite des Tors stand der Wächter. Der Mann sah noch genauso aus wie oben im Turm – dieselbe bunt zusammengewürfelte Kleidung, dasselbe zerzauste Haar, derselbe zottelige Bart. Nur aus seinem Gesicht war jeglicher Wahnsinn verschwunden. Alles, was Michael darin erkannte, war ein schadenfroher, gieriger Triumph.
Der Mann hatte einen hölzernen Prügel in der Hand.
»Dein Freund hatte einen ziemlich harten Schädel. Ich musste ihm dreimal eins überziehen, bevor er liegen blieb. Wo ist denn nur dieser verflixte Drache …?«
In dem Moment erklang wütendes Gebrüll am anderen Ende des Tunnels.
Der Wächter grinste Michael an und kicherte. »Oh-oh!«
»Lassen Sie mich raus! Bitte, lassen Sie mich raus. Sie wird mich töten! Sie …«
Eine Hand schoss zwischen den Eisenstäben hindurch und packte Michael am T-Shirt.
»Die Chronik gehört mir, Freundchen. Ich bewache sie
Weitere Kostenlose Bücher