Das Buch Rubyn
Pelzmantels und klappte es auf. Darin lagen vier Zigarren, nebeneinander aufgereiht wie Geschosshülsen in einem Patronengürtel. Die Kutsche holperte über das Pflaster, und Rourke, der Kate gegenübersaß, hatte seine langen Beine ausgestreckt und die Füße auf den Sitz neben ihr gelegt. Er schien sehr mit sich zufrieden zu sein.
»Nein, danke«, stieß Kate hervor.
»Tja, mir wird davon speiübel, und das ist die reine Wahrheit.«
Rourke biss das Ende der Zigarre ab und spuckte es mit solcher Heftigkeit aus dem Kutschenfenster, dass es einem Mann den Hut vom Kopf stieß. Er kicherte und zündete sich an seinem Daumen ein Streichholz an. Kurz darauf zog süßer Zigarrenrauch durch die Kutsche.
»Ich streite ja nicht ab, dass etwas geschehen muss. Die Menschen haben sich stark vermehrt, und dann dieser Hass und die Unterdrückung unserer Art! Schlimm ist das. Aber die Natur lehrt uns, dass der Stärkere obsiegt. Ich will dir eine Geschichte erzählen. Warst du schon mal in Irland?«
Kate schüttelte knapp den Kopf.
»Da bin ich zu Hause. Ein wunderschöner und gleichzeitig ein tragischer Ort. Ich wuchs in einem Waisenhaus außerhalb von Dublin auf, das unter der Leitung der Schwestern der Lieben und Ewiglichen Wohltätigkeit stand. Meine Eltern habe ich nie kennengelernt. Obwohl mir gesagt wurde, dass meine Mutter zur Hälfte eine Riesin war – was angesichts meiner Körpergröße durchaus glaubhaft erscheint. Aber wie es halt ist, wurde ich als Missgeburt betrachtet. Als ein Ding, das nicht menschlich ist. Und so wurde ich auch behandelt.«
Kate sagte nichts. Sie hörte nur mit halbem Ohr zu. Sie kramte in ihren Taschen. Es musste doch da sein. Sie konnte es unmöglich verloren haben …
»Bereits mit neun war ich größer als jeder erwachsene Mann in Dublin und die guten Schwestern verkauften mich an den Besitzer eines Steinbruchs. Er kettete mich an einen Pfahl und ich musste jeden Tag zwölf Stunden lang große Steine in kleine Stücke zerschlagen. Aber noch war ich nicht ausgewachsen, weißt du? Mit jedem Tag wurde ich größer und stärker. Schließlich bekam mein Herr und Meister Angst vor mir. Seine Furcht war so groß, dass er plante, mich umzubringen. Glücklicherweise bekam ich Wind von seinem unseligen Vorhaben, befreite mich und schlug ihm mit demselben Hammer, mit dem ich seine Steine zerkleinern musste, den Schädel ein. Ach, was für ein großer Tag das doch war! Dunkel und blutig und herrlich!«
Er lächelte, in Erinnerungen versunken, und stieß eine Rauchwolke aus.
»Natürlich wurde ich erwischt. Zum Weglaufen war ich zu dumm. Man wollte mich hängen, sobald ein Seil gefunden war, das mich hätte halten können. Aber in der Nacht vor der Hinrichtung saß ich allein in meiner Zelle und plötzlich war ich nicht mehr allein. Er war bei mir.« Der Mann beugte sich eifrig vor. »Und was hat er wohl zu mir gesagt? Er sagte: Declan Rourke, du bist kein Mensch. Ihre Gesetze haben keine Macht über dich. Wenn ich dich befreie, wirst du mir willig dienen? Und was habe ich wohl geantwortet? Bruder , sagte ich, wenn du mich hier herausholst, dann kratze ich dir den Schlamm von den Stiefeln . Und genau das tat er und machte aus mir den Mann, der ich heute bin. Er hat mir die Augen geöffnet und mir Macht verliehen. Ein großer, großer Mann. Und du, Mädchen« – der kahlköpfige Riese lächelte und lehnte sich wieder zurück – »wirst ihn schon bald kennenlernen.«
Die Kutsche fuhr durch ein geöffnetes Schmiedeeisentor in den Hof eines imposanten, vierstöckigen Gebäudes, das inmitten anderer herrschaftlicher Häuser stand. Ein Gnom trat vor und öffnete den Schlag. Rourke schaute Kate durch den Rauch seiner Zigarre an.
»Geht’s dir gut, Mädchen? Du siehst so blass aus.«
»Ich … ich habe etwas verloren«, sagte Kate. »Es war in meiner Tasche.«
»Was war es? Ich schicke einen Gnom zu der Stelle, wo wir uns begegnet sind. Wahrscheinlich ist es dir aus der Tasche gefallen, als wir zusammenstießen.«
Kate stellte sich vor, wie einer der Gnome das Medaillon ihrer Mutter aufhob und in seiner ekelhaften Hand hielt. Da war es ihr schon lieber, wenn sie es nie mehr wiedersah.
»Es ist nicht wichtig.«
»Wenn das so ist«, sagte er und winkte mit der Zigarre, »folge mir. Mein Meister erwartet dich.«
»Wir machen euch keinen Vorwurf.«
»Aber das sollten Sie!«, schrie Abigail und zeigte mit dem Finger auf die beiden Jungen. »Sie haben schließlich die Schneebälle geworfen! Wenn
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