Das Buch Rubyn
junges Mädchen, kaum mehr als ein Kind, die Macht in sich trägt, über die Zeit zu gebieten. Man sollte sich nie von Äußerlichkeiten täuschen lassen. Macht ist Macht. Äußere Erscheinungen«, und dabei schnippte er wieder mit den Fingern, »können sich verändern.«
Aus heiterem Himmel tauchte ein Spiegel auf, und Kate, die hineinschaute, sah ein altes Weib mit silbernen Haaren und einem runzeligen Gesicht, von dem die Haut abzufallen schien. Aufkeuchend hob Kate die Hände und sah ihre geschwollenen Fingerknöchel, die dicken, klauenartigen Nägel. Aber noch ehe sie schreien konnte, wedelte der alte Mann kurz mit der Hand, und Kate sah ihr wirkliches Ich im Spiegel.
»Vertraue niemals dem äußeren Schein, mein Kind.«
Kates Herz hämmerte, während der alte Mann kicherte. In seiner Brust rasselte es schleimig. Kate zwang sich zur Ruhe. Selbst wenn das tatsächlich der grässliche Magnus war, konnte er nichts über sie wissen. Sie würden sich erst in hundert Jahren auf dem Schiff der Gräfin in Cambridge Falls begegnen. Sie musste sich nur beherrschen. Dann würde sie schon wieder hier rauskommen.
Der alte Mann legte den Kopf schräg, als ob er einer gedämpft klingenden Melodie lauschen würde.
»Wir sind uns schon einmal begegnet, nicht wahr? Oder nein, wir werden uns begegnen. In der Zukunft.«
Kate sagte nichts. Konnte der Mann ihre Gedanken lesen?
Der alte Zauberer sprach weiter.
»Die Hüterin des Buches Emerald. Natürlich. Ich wusste es in dem Moment, als du hier in der Stadt ankamst. Ich konnte nicht genau bestimmen, wo du warst, aber ich habe deine Gegenwart gespürt. Und wie passend, dass du heute Nacht hier bist, ausgerechnet heute! Weißt du, warum diese Nacht so bedeutungsvoll ist, Kind?«
»Es geht … um die Trennung«, sagte Kate, die froh darüber war, über etwas reden zu können, mit dem sie sich nicht verriet. »Um Mitternacht verschwindet die magische Welt.«
»Ja. Wir ziehen uns zurück. Wir verlassen die Welt der Menschen, nur aus dem einen Grund: weil sie uns für unsere Macht hassen und sie uns zahlenmäßig – zehntausend zu eins – überlegen sind.«
Kate wusste nicht, was sie darauf sagen sollte, und so schwieg sie.
»Jene, die zum Rückzug blasen, meinen, dass wir nicht länger Seite an Seite mit den Menschen leben können. Sie werden immer stärker, während wir schwächer werden. Sie sagen, dass das Zeitalter der Magie schon lange vorbei ist. Dass die Trennung, der Rückzug, die Kapitulation unsere einzige Hoffnung zu überleben ist. Teilweise stimme ich dem zu.« Der Rollstuhl mit dem Mann kroch auf Kate zu. »Es ergibt keinen Sinn, auf einem Niveau mit den Menschen leben zu wollen. Wir sind nicht gleich und wir werden es nie sein. Aber die Magie kann erneut die Welt beherrschen. Alles, was dazu nötig ist, ist der Wille und die Macht. Ich habe den Willen, und bald, schon sehr bald, werde ich auch die Macht haben.«
Bis jetzt hatte Kate nur daran gedacht, sich selbst zu schützen und so wenig wie möglich von sich preiszugeben. Plötzlich jedoch fing sie an zu verstehen.
»Ich habe all das schon vor langer Zeit vorausgesehen. Als die Magie noch stark und mächtig war. Damals wollte es keiner glauben, doch ich wusste, dass die Menschen eines Tages triumphieren würden. Ich versuchte, die anderen zu überzeugen. Aber Zauberer kämpfte gegen Zauberer. Elfen kämpften gegen Zwerge, die gegen Gnome kämpften, die gegen Drachen kämpften. Niemand beachtete den wahren Feind. Und die Macht, die wir brauchten, war da. Sie befand sich sogar gebündelt an einem Ort, als ob sie nur darauf wartete, dass ich komme und sie mir nehme.«
»Die Chroniken vom Anbeginn«, flüsterte Kate.
»Genau. Aber die Zauberer von Rhakotis waren trotz ihrer Gelehrsamkeit Narren. Sie hatten die Bücher nur deshalb geschrieben, damit die Welt erfahren möge, dass sie sie geschrieben hatten. Sie wollten sie nie benutzen. Und dennoch«, sagte der alte Mann und wiegte seinen monströsen Kopf, »besaß der Rat eine große Macht. Jahrhundertlang waren sie zu stark, um angegriffen zu werden. Aber meine Zeit kam, als Alexander geboren wurde. Ich half dem Kriegerfürsten, die Stadt zu erobern.«
»Sie haben sich mit einem Menschen verbündet«, bemerkte Kate, die sich die Spitze nicht verkneifen konnte. »Ich dachte, Sie hassen die Menschen.«
Der grässliche Magnus zuckte mit den Schultern. »Der Krieg schafft die merkwürdigsten Allianzen. Außerdem habe ich ihn schon kurz darauf
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