Das Buch Von Ascalon: Historischer Roman
Blick, der nach wie vor auf den Boden gerichtet war, nahm einen entrückten Ausdruck an. Eine endlos scheinende Weile verging, in der der Rabbiner offenbar die Wirrnis seiner Gedanken zu ordnen suchte, und den Schatten nach zu urteilen, die dabei über seine ausgezehrten Züge huschten, begegnete er dabei namenlosem Grauen. In der Synagoge wurde es so still, dass man eine Nadel fallen gehört hätte.
»Es begann vor vier Tagen«, begann der Rabbiner mit fes t erer Stimme als zuvor. »Sicher haben auch euch die beunruhigenden Nachrichten über jene Vorfälle erreicht, die sich in Worms zugetragen haben sollen. Auch wenn sie noch unbestätigt waren, wollten wir dennoch Vorsicht walten lassen und haben uns in den Schutz des Erzbischofs begeben, den wir alle als milde und gerecht kennen.«
»Eine weise Entscheidung«, anerkannte Mordechai und schaute Beifall heischend reihum, doch keines der Ratsmitglieder erwiderte seinen Blick. Aller Augen waren wie gebannt auf den Oberrabbiner gerichtet, der mit gepresster Stimme fortfuhr.
»Angesichts der herannahenden Gefahr durch den Grafen Emicho und die Seinen haben wir Erzbischof Ruthard dreihundert Silberstücke übergeben, auf dass er uns seinem Schutz unterstelle. Er versprach, sich jeder Gefahr entgegenzustellen und uns nötigenfalls in seinem Hause Zuflucht zu gewähren.«
»Und dann? Was ist dann geschehen?«, wollte Usija, der Gehilfe des Kölner Rabbiners, wissen.
»Graf Emicho und seine Horde gelangten vor die Tore der Stadt. Die Hetzreden, die die Wanderprediger seit einiger Zeit gegen all jene führen, die nicht christlichen Glaubens sind, hat viele hervorgebracht, die das Haus Jakob abgrundtief hassen. Er jedoch ist der schrecklichste von allen. Zwei Tage lang lagerten seine Truppen vor der Stadt, und noch immer gab ich mich der Täuschung hin, ihre Zerstörungswut und ihr grundloser Zorn könnten mit materiellen Gütern besänftigt werden. Auf meine Empfehlung hin entrichtete die Gemeinde eine Zahlung von sieben Pfund reinen Goldes an den Grafen, worauf uns Sicherheit und freies Geleit zugesichert wurde. Als die Stadttore jedoch geöffnet wurden, zogen die meisten von uns es dennoch vor, sich in den Schutz der Bischofssitzes zurückzuziehen – und das aus gutem Grund.«
Die Augen des Oberrabbiners wurden glasig, als die Gräuel der Vergangenheit erneut vor ihnen Gestalt annahmen. »Kaum dass sie ihren Fuß in die Stadt gesetzt hatten, fing es an«, be r ichtete er mit tonloser, fast flüsternder Stimme. »Diejenigen von uns, die sich entschlossen hatten, in ihren Häusern zu verbleiben, wurden an den Haaren auf die Straßen geschleift und durch Kot und Schmutz gezerrt, ehe sie schließlich grausam ermordet wurden. Ihre Häuser wurden gestürmt und ihre Habe geplündert. Sodann zogen der Graf und seine Männer vor die Mauern des Bischofssitzes und verlangten unsere sofortige Herausgabe.«
»Und der Bischof? Was hat er getan?«, wollte Mordechai wissen.
Der Rabbiner schnaubte voller Verachtung. »Die Schulden, die wir ihm erlassen, und die weiteren zweihundert Silberstücke, die wir ihm bezahlt hatten, hatte er bereitwillig angenommen. Als des Grafen Horde jedoch die Stadt betrat, da flüchteten Ruthard und seine Soldaten und ließen uns schutzlos zurück.«
»Er … er ist geflohen?« Verzweifelter Unglaube schwang in Mordechais Frage mit.
»Hatten wir ernsthaft erwartet, dass ein Christ das Schwert gegen einen Christen erheben würde, um einen Juden zu verteidigen?« Kalonymos schüttelte den Kopf. »W ie töricht wir waren.«
»Und dann? W as ist dann geschehen?«, fragte ein anderer Vornehmer bange.
»W ir alle, die wir uns in den bischöflichen Palast geflüchtet hatten, bewaffneten uns, so gut wir es vermochten – doch gegen die Wut, mit der Emichos Schergen gegen die Mauern anrannten, konnten wir nichts ausrichten. Nach wenigen Stunden fiel das Tor, und der Graf und seine Schlächter fielen über uns her. Ein schreckliches Morden entbrannte, dem unzählige unserer Schwestern und Brüder zum Opfer fielen. Auch Josua, mein geliebter Sohn, ist unter den Toten«, fügte der Oberrabbiner leise hinzu. »Er stellte sich zwei Soldaten entgegen, die sich seiner Frau und seiner beiden Söhne bemächtigen wollten, aber sie schlugen ihn nieder. Der eine durchbohrte ihn m it dem Schwert, der andere zerrte ihm die Kleidung herab und beraubte ihn seiner Männlichkeit. Jetzt, brüllte er, sei er rechtmäßig beschnitten. Dann durchstießen sie seinen Söhnen die
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