Das Buch Von Ascalon: Historischer Roman
Kehlen und vergingen sich an seiner Frau.«
»Und Ihr?«, erkundigte sich Mordechai, dessen Züge inzwischen rot vor Zorn und Empörung waren. »W as habt Ihr getan?«
»Ich fiel nieder, wo ich stand. Was hätte ich auch tun sollen als Greis, der ich bin? Den grausamen Kriegern Widerstand leisten, denen unsere jüngsten und kräftigsten Männer nicht widerstehen konnten? Nach allem, was ich gesehen hatte, wollte ich nicht mehr leben, und ich wartete nur darauf, dass blutgetränkter Stahl mich treffen und durchstoßen würde. Aber aus einem Grund, den ich nicht zu durchschauen vermag, hielt Gott seine schützende Hand über mich. Jemand zog mich auf die Beine und riss mich mit fort. An das, was dann geschehen ist, erinnere ich mich nicht. Aber als ich wieder zu mir kam, war ich in der bischöflichen Sakristei, in die sich rund fünfzig von uns geflüchtet hatten. Einen Tag und eine Nacht lang harrten wir dort aus, umgeben vom Geschrei der Sterbenden und vom Gebrüll der Mordbrenner, und rechneten jeden Augenblick damit, entdeckt und ebenfalls getötet zu werden. Aber dann zogen sie schließlich ab.«
Jakob, der Gabbai, der einmal mehr über das Gesprochene Buch geführt und es in kurzen Worten festgehalten hatte, schaute von seinem Pergament auf. Die Feder in seiner Hand bebte. »W ollt Ihr damit sagen, dass … dass nur jene fünfzig, die sich in der Sakristei verbargen, den Überfall überlebt haben?«
»Ich will damit sagen«, entgegnete Kalonymos düster, »dass jene fünfzig – zumeist Alte, Kinder und Schwache – zunächst entkommen sind. Doch blieben sie weiterhin den Nachstellungen des Feindes ausgesetzt, und viele von ihnen starben in den darauffolgenden Tagen, als Emichos Schergen in den Wäldern eine gnadenlose Jagd eröffneten, geradeso, als gelte e s, Vieh zu erlegen und Trophäen zu sammeln. Während einer nächtlichen Attacke wurde ich von den anderen getrennt. Ich lief, so weit ich nur konnte, während ihre Schreie durch die Dunkelheit gellten, immer und immer wieder, jedes Mal, wenn einer von ihnen gefangen wurde …« Er presste die Hände auf die Ohren, als könne er sich so vor den furchtbaren Lauten schützen, die er noch immer zu vernehmen schien. »Irgendwann endeten die Schreie, aber ich lief immer noch weiter. Schließlich stieß ich auf den Fluss, und ein Schiffer erbarmte sich meiner, nachdem ich ihm mein letztes Geld gegeben hatte. Auf diese Weise gelangte ich hierher, um euch zu warnen, meine Brüder. Ich weiß nicht, welcher Gunst ich es zu verdanken habe, dass ich den Schlächtern entronnen bin. Aber vielleicht«, fügte er nach einer kurzen Pause leise hinzu, »ist das Überleben ja auch keine Gunst, sondern eine Strafe.«
Erstmals schaute er auf. Nachdem er all das Schreckliche ausgesprochen hatte, das auf seiner Seele lastete, schien er sich stark genug zu fühlen, reihum zu blicken, in bleiche Mienen, die ihn mit einer Mischung aus Unglauben und Entsetzen anstarrten. »Ich wünsche niemandem von euch, jemals erleben zu müssen, was mir widerfahren ist. Über eintausend von unseren Leuten sind tot, dahingemordet in nur zwei Tagen. Das ist die traurige Nachricht, die ich euch bringe. Gott kann bezeugen, dass jedes einzelne Wort davon wahr ist.«
Das Schweigen, das sich über die Versammelten gebreitet hatte, war allumfassend. Mehr noch, die Zeit schien stillzustehen in diesem Augenblick, in dem auch dem letzten Ratsmitglied klar werden musste, dass die Regeln der alten Welt nicht mehr galten. Eine radikale Veränderung war vor sich gegangen und mit ungeheurer Grausamkeit über die Gemeinde von Mainz hereingebrochen.
Plötzlich bestand auch nicht mehr der geringste Zweifel daran, dass die Gerüchte aus Worms der Wahrheit entsprochen hatten, aber die Mehrheit der Ratsmitglieder war zu gefangen i n ihrem eigenen Entsetzen, als dass sie zu logischen Schlussfolgerungen oder gar zu Selbstkritik fähig gewesen wären. Der unfassbare, jedoch durch einen Oberrabbiner verbürgte und daher glaubwürdige Mord an über eintausend Juden der Mainzer Gemeinde stand ihnen drohend vor Augen, und noch nicht einmal Mordechai Ben Neri konnte daran Zweifel haben. Und mit jedem Herzschlag, der seit dem ersten Schock verstrich, wandelte sich die Bestürzung der Ratsmitglieder in nackte Furcht und ließ die Ereignisse von Mainz zum grässlichen Menetekel werden.
»Emicho und seine Schergen, wo sind sie jetzt?«, fragte jemand zaghaft in die Stille.
»In Trier, soweit wir gehört haben«, antwortete
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