Das Buch von Eden - Die Suche nach dem verlorenen Paradies
Selbst die Tannen- und Fichtenwedel wirkten um diese Jahreszeit so grau wie die Wasser der Morava, die sich glucksend einen Weg durch das kurvenreiche Tal bahnte. Im Sommer mochte diese Landschaft den Reiz rauer Schönheit besitzen, ganz ähnlich den endlosen Wäldern und Hügeln der Eifel, an die sie Aelvin manchmal erinnerte; im Januar aber wirkte sie beängstigend in ihrer erhabenen Wildheit.
Die Straße, auf der sie gen Süden zogen, führte sie entlang des Flusstals. An vielen Stellen lag sie unter Schneewehen begraben, doch hier und da hatten Winde und kurze Eisschmelzen ihr buckliges Pflaster entblößt. Albertus erzählte ihnen Geschichten von römischen Legionen, die einst über diese Steine marschiert waren, doch falls er ihnen damit Ehrfurcht vor dem Vergangenen einflößen wollte, so schlugen seine Versuche fehl. Sehr viel mehr beschäftigten sie die vereisten, aber deutlich erkennbaren Hufspuren, auf die sie gelegentlich stießen, und manchmal führten Stiefelabdrücke aus den Wäldern herab auf die Straße und von dort zurück ins Unterholz.
Einmal kamen sie an eine Stelle, wo die Schneedecke von zahlreichen Füßen zertrampelt und das Eis an manchen Stellen dunkelbraun gefärbt war. Albertus sprach ein Gebet für die armen Seelen, die hier ihr Schicksal ereilt hatte, aber Aelvin machte sich größere Sorgen um seine eigene arme Seele und die der beiden Mädchen. Daran vermochte auch das Gewicht des Kurzschwertes nichts zu ändern, das er jetzt unter seinem Mantel trug. Corax hatte es ihm geschenkt mit den Worten, er selbst werde es wohl kaum mehr benötigen, und dann zum ersten Mal zugegeben, dass seine Fähigkeit zu sehen sich während der Flussfahrt verschlechtert hatte. Noch immer vermochte er Hell und Dunkel zu unterscheiden, auch Bewegungen nahm er wahr, doch er hatte jegliches Gefühl für Entfernungen verloren und ihm war, als herrsche den ganzen Tag über düsteres Dämmerlicht. Libuse biss sich bei diesen Worten auf die gesprungene Unterlippe, sagte aber nichts, umarmte ihren Vater und strich sanft über das rosa Narbengewebe unter seinen Augen.
Sie verbrachten die Nacht im dichten Unterholz, das sie vor Wind und unliebsamen Blicken von der Straße schützte. Eine Weile lang wärmte Libuse sie mithilfe des Erdlichts, doch schon bald schwächte die Beschwörung sie zu sehr und ihnen blieb keine andere Wahl, als ein Lagerfeuer zu entzünden und es die ganze Nacht lang am Brennen zu halten. Reihum hielten sie Wache, doch die Kälte ließ auch die Übrigen nur unruhig schlafen, trotz all ihrer Decken. Einmal war es Aelvin während seiner Wache, als zöge ein finsterer Umriss über den Fluss nach Süden, eine Verdichtung aus Dunkelheit, die alles Mögliche sein mochte: eine Rauchwolke, ein Boot, ein Ungeheuer ohne Stimme. Dann hörte er Knarren und Plätschern, vielleicht von Rudern, und rasch setzte er sich so vor das Feuer, dass es die Reisenden auf dem Fluss durchs Unterholz nicht entdecken konnten.
Am zweiten Tag ihrer Reise auf der Römerstraße erwähnt e C orax zu ihrer aller Erstaunen, dass er diese Gegend schon einmal durchquert habe. Und nicht nur er allein – auch Libuse war damals bei ihm gewesen. Sie war darüber so erstaunt wie alle anderen, und Corax sagte, sie sei viel zu jung gewesen, um sich heute noch daran zu erinnern.
» Damals hörte ich so einiges über die Bewohner dieses Landstrichs «, sagte Corax, » und wenn euch allen noch nicht kläglich genug zumute ist, dann will ich euch von ihnen erzählen. «
Albertus sah einen Moment lang aus, als wollte er ihn zurückhalten, doch dann ließ er die Hand wieder sinken und zuckte nur die Achseln.
» Die Räuber, die sich in diesen Wäldern herumtreiben, haben es nicht nur auf Reichtümer abgesehen, denn davon bekommen sie in diesen Tagen nur wenig zu sehen. « Corax wurde von Libuse am linken Arm geführt, und sein halb blinder Blick war starr geradeaus gerichtet, so als sähe er dort Dinge, die allen anderen verborgen blieben: die Vergangenheit vielleicht. » Es gibt noch etwas, auf das sie ganz versessen sind, und das sind die Schädel ihrer Opfer. «
» Schädel? «, wiederholte Aelvin dumpf.
» Sie sammeln Köpfe, denn nur jener unter ihnen gilt etwas, der von sich behaupten kann, eine große Zahl von Männern und Frauen enthauptet zu haben. Eine Sitte, die sie aus den Geschichten über die Skythen übernommen haben, wie ’ s scheint. Sie benutzen dazu den Handzhar, eine kurze, schwere Klinge, mit der sie ihrem Opfer
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