Das Buch von Eden - Die Suche nach dem verlorenen Paradies
mit einem einzigen Schlag den Schädel von den Schultern hauen. Aber es sind nicht nur Köpfe, die sie sammeln, sondern auch alle anderen Körperteile. Finger, ganze Hände, Ohren und Nasen. Zieht ein Mann in dieser Gegend in den Kampf, ganz gleich, ob es sich um eine Schlacht für seinen Fürsten handelt oder um einen Überfall, dann muss er mindestens einen Kopf mit nach Hause bringen, um vor seinen Söhnen damit zu prahlen. «
Aelvins Blick wanderte über die stillen Berghänge und fragte sich, wie viele solcher Schädelsammler sich in den Schatten der Nadelbäume verbargen. Auch das gefrorene Blut, das sie gestern entdeckt hatten, schien ihm mit einem Mal eine noch grässlichere Bedeutung anzunehmen.
Favolas Stimme schnitt durch die Pause in Corax ’ Erzählung und ließ alle anderen aufhorchen. » Welchen Unterschied macht es schon, von einem Räuber um einiger Münzen willen oder wegen des Schädels erschlagen zu werden? « Sie zuckte die Achseln. » Mir ist es gleich. « Dass diese Worte ausgerechnet von ihr kamen, überraschte Aelvin. Auch Libuse schaute voller Erstaunen auf.
» Erzähl weiter «, bat die Novizin. » Wir sollten alle wissen, was uns hier droht. So offen ist schließlich nicht jeder hier mit uns anderen. «
Der Magister zuckte leicht, und Libuse verkniff sich ein anerkennendes Lächeln.
» Nun «, fuhr Corax fort, » ein Mann trägt die Köpfe seiner Feinde nach Hause, macht sie in Salzfässern haltbar und pflanzt sie auf Stecken vor seinem Haus auf. Ich habe solche Häuser gesehen, weiter im Süden, und glaubt mir, der Anblick übertraf alles, was ich in den Ländern der Ungläubigen geschaut habe. Die Männer hier rasieren sich die Kopfhaut, denn das macht es für einen Feind schwerer, ihre Köpfe vom Schlachtfeld zu tragen. Sie müssten ihm die Hand in den Mund stecken, um ihn zu tragen, ohne dabei die Waffe abzulegen, und die Leute hier glauben, dass sich ein guter Christ dies selbst im Tod nicht gefallen lässt – er würde seinem Mörder alle Finger abbeißen. «
Albertus bekreuzigte sich seufzend.
» Es gibt regelrechte Gesetze für das Köpfen von Gegnern «, sagte Corax, plötzlich so redefreudig wie selten zuvor. Aelvin sah Libuse an, dass sie sich darüber freute, ganz gleich wie schrecklich die Bilder waren, die ihr Vater heraufbeschwor.
» Verletzen zwei Männer in einem Kampf denselben Feind, dann gehört sein Schädel jenem, der ihn als Erster hat bluten lassen. Oft entstehen daraus Streitigkeiten, sodass beim Kampf um den Schädel des Toten neuerliches Blut fließt, diesmal unter Freunden, und so mag es sein, dass der Sieger mit zwei Köpfen statt mit einem nach Hause kommt. Ziehen aber zwei Blutsbrüder in den Krieg und stirbt der eine, dann ist es die Pflicht des anderen, seinen Kopf zu bergen und sicher in die Heimat zurückzubringen, damit er keinem Feind in die Hände fällt. So heilig ist diesen Menschen der Kopf, dass sie sogar auf die erbeuteten Schädel ihrer Gegner schwören. Sie sagen: › Ich schwöre vor Gott und den dreizehn Köpfen der Männer, die mein Handzhar gefällt hat. ‹ «
Es raschelte im Unterholz. Gleich darauf schoss ein Fuchs vor ihnen über die Straße, schlug am Flussufer einen Haken und raste zurück ins Gebüsch. Zwei Eichelhäher flatterten auf. Irgendwo in den Wäldern heulten Wölfe.
Zufällig streifte Aelvins Hand die von Favola, doch weil beide Handschuhe trugen, blieb es ohne Folgen. Favola hielt seine Finger fest, und eine ganze Weile gingen sie Hand in Hand. Keiner der anderen schien es zu bemerken, nicht einmal Libuse, die gleichermaßen fasziniert wie entsetzt den Worten ihres Vaters lauschte.
Corax senkte seine Stimme. » Im letzten Jahrhundert haben die Kreuzritterheere diesen Weg genommen, um ins Heilige Land zu gelangen – das war, bevor sie Ve rträge mit den Venezianern schlo ssen, die ihnen die Überfahrt auf Schiffen über das Mittelmeer gewährten. Sie benutzten genau diese Straße hier, wie schon die Römer tausend Jahre vor ihnen. Und nach allem, was ich gehört habe, wüteten sie schrecklich unter den Bewohnern dieser Wälder. Sie verwüsteten ganze Dörfer im Namen des Herrn, weil sie die Menschen für Ungläubige hielten, ganz gleich, wie oft diese beteuerten, dass sie alle an denselben Gott der Christen glaubten. Anfangs hatten sie leichte s S piel, aber später bildeten die Bewohner kleine Armeen, die die Ritter aus dem Hinterhalt überfielen. Damals trugen sie Tausende von Schädeln zurück in ihre
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