Das Buch von Eden - Die Suche nach dem verlorenen Paradies
getötet.
Gabriel verlor das Gefühl für die Zeit, doch damit hatte er gerechnet. Zwei, drei Mal schlug er die Minenpläne auseinander und stellte zufrieden fest, dass er sich noch immer auf dem richtigen Weg befand. Er orientierte sich anhand der Abzweigungen, die er sorgfältig zählte. An vielen waren noch die alten Markierungen erhalten, manche eingemeißelt ins Gestein, andere mit Kreide geschrieben.
Die meiste Zeit über verlief der Grund leicht abschüssig. Viele Tunnel waren gerade in den Berg getrieben worden, Querstollen zweigten in rechtem Winkel ab. Nur dann und wann gab es Gabelungen. Einige Male passierte er schwarze Abgründe, über die sich die morschen Balkengerippe alter Flaschenzüge spannten. Mit Körben waren hier einst die Arbeiter in die tieferen Ebenen befördert worden.
Die Schlange verhielt sich weiterhin ruhig, aber er spürte ihre Gegenwart, auch wenn er sich Mühe gab, nicht an sie oder an Oberon zu denken.
Der Stollen wurde eben, die Wände rückten weiter auseinander. Er hatte den alten Haupttunnel erreicht, den die ersten Silberschürfer vor über zweihundert Jahren in den Fels getrieben hatten. Nicht mehr weit bis zum Tor. Der Boden war zerfurcht von den Rädern der Karren, die einst hier entlanggerollt waren. An einigen der Stützbalken, die in regelmäßigen Abständen Decke und Wände hielten, hatten Zeit und Feuchtigkeit gefressen. Hin und wieder kreischten Ratten in der Schwärze außerhalb des Fackelscheins, was Gabriel für ein Zeichen hielt, dass der Ausgang nahe war.
Eiskalte Winde folgten ihm aus dem Bergesinneren, wehten in seinen Nacken und bauschten seinen Mantel, sodass er einen Herzschlag lang glaubte, Gestalten am Rande seine s B lickfelds zu sehen. Die Stute wieherte verhalten, das erste Mal, dass sie überhaupt einen Laut von sich gab.
Sollte er nicht allmählich Licht sehen?
Er blieb abermals stehen und kontrollierte die Pläne. Zweifellos befand er sich auf der richtigen Ebene. Die Wegstrecke konnte er nicht abschätzen – es gab auf der Karte keine Entfernungseinheiten, nur die Nummern und Markierungen an den Abzweigungen –, aber all seine Zählungen stimmten überein.
Es gab noch eine andere Möglichkeit, eine, die er vage einkalkuliert hatte, und die ihm doch einen Schauer über den Rücken jagte: Vielleicht war das Tor schon seit vielen Jahren unpassierbar. Hatten die Minenbesitzer es einstürzen lassen, als sie dem Berg von Osten her zu Leibe gerückt waren? Sah er deshalb kein Licht? In den Plänen gab es darauf keinen Hinweis. Sie hatten sich bisher als erstaunlich präzise erwiesen, und er konnte sich nicht vorstellen, dass ein so wichtiger Umstand unerwähnt geblieben wäre. Und falls doch – lieber wollte er sich mit bloßen Händen durch einen Steinwall graben, als sich erneut Oberons Willkür auszusetzen.
Der Hufschlag der Stute echote durch den Stollen und folgte ihnen als geisterhafter Hall mit einem Atemzug Verspätung. Fast klang es, als wäre ein zweiter Gaul hinter ihnen. Aber Verfolger kamen nicht infrage. Nicht hier unten und nicht so nah. Nur eine Täuschung.
Und dann endlich sah er Licht.
Er hörte Stimmen. Rufe. Das Klirren von Eisen.
Ihm blieb keine Zeit mehr, die Flucht zurück zu ergreifen. Sie kamen von überall aus der Finsternis, eine große Zahl von Bewaffneten. Sie riefen ihn an in der Sprache dieses elenden Landes, und als er nicht reagierte, wiederholten sie ihre Worte auf Griechisch und Latein. Nach einem von ihnen schlug er mit seiner Fackel, doch er lachte bitter dabei, weil er wusste, wie aussichtslos es war.
In all seinen Plänen hatte er eines nicht bedacht: Der König kannte den alten Eingang zur Mine. Er fiel den Räubern in den Rücken.
Sie nahmen ihm das Schwert ab, das an seinem Sattel hing, ließen ihm aber die Lumina und das Pferd. Sie wussten, er würde nicht fliehen; er musste einsehen, dass es sinnlos war. Er klammerte sich an den Schrein, als hinge sein Leben davon ab, und vielleicht tat es das ja tatsächlich.
Der Hauptstollen führte in eine Grotte, deren Ausgang am Ende einer natürlichen Rampe lag, im oberen Teil mit Schnee gepudert und zu hoch, um vom Höhlengrund aus ins Freie zu blicken. Deshalb also hatte er das Tageslicht von weitem nicht sehen können.
Inmitten der Höhle, unter einem Himmel aus schwarzem Fels, lagerte die Streitmacht des Königs. Hier waren all jene versammelt, die nicht damit beschäftigt waren, durch die Wälder zu streifen und die Verteidiger durch einen Angriff
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