Das Buch von Eden - Die Suche nach dem verlorenen Paradies
dass Sinaida sie jedes Mal früh genug bemerkte und in weitem Bogen umgehen konnte. Schneller als sie erwartet hatte, näherte sie sich dem Zentrum der Gärten, wo sich vor dem Nachthimmel der Kalifenpalast und seine private Moschee erhoben, erhellt von Fackelreihen am Fuß der Mauern und hoch oben auf den Zinnen. Feuerschein flackerte über das gewölbte Auf und Ab der Kuppeldächer.
Schon von weitem hörte sie Schreie.
Im ersten Moment glaubte sie, es seien Kinder. Aber selbst wenn der Kalif alle Weiber seines Harems auf einmal geschwängert hätte, wären wohl kaum genug Bälger zustande gekommen, um solch ein Spektakel zu veranstalten. Es war ein Brüllen und Kreischen und Schnattern, ein Gezeter und Gekeife, als hätten sich alle Klageweiber des Orients versammelt, um einen Wettstreit auszutragen.
Je näher Sinaida dem grässlichen Lärm kam, desto deutlicher wurde ihr, dass dies keine menschlichen Stimmen waren. Sie schauderte bei der Vorstellung scheußlicher Ungeheuer, die der Kalif in seinen Kerkern gefangen hielt – oder, schlimmer noch, zur Bewachung seines Palastes frei durch die Gärten toben ließ.
Geschichten fielen ihr ein, alte Märchen über die Wunder und Albträume des Orients. Von Raubvögeln groß wie Häuser war da die Rede gewesen, von Dschinns, die ihre Feinde mit nichts als einem Blick zu töten vermochten, und von geisterhaften Kriegern aus Sand, die sich auf Befehl ihres Meisters aus den Dünen erhoben und erst wieder ruhten, wenn ihre Gegner zerstückelt waren.
Vor einer weiteren Patrouille wich sie in dichtes Unterholz aus. Als sie sich auf der anderen Seite zwischen den Zweigen hervorschob, stand sie plötzlich vor einer Allee aus Käfigen. Flammen zuckten in geschmiedeten Lampenkästen und tauchten die Gitterstäbe in Glut.
Kein Mensch war zu sehen.
Der Weg zwischen den Käfigen war etwa fünfzig Schritt lang und ein Dutzend Schritt breit. Er mündete in den Vorplatz eines dreistöckigen Gebäudes, ein Anbau des eigentlichen Palastes. Fenster gab es dort keine, nur ein doppelflügeliges Portal, das ins Innere führte. Über dem gewölbten Dach erhoben sich die Kuppeln der Kalifenresidenz wie düstere Gewitterwolken vor dem sternenklaren Nachthimmel.
Sinaida zögerte. Ein eiskalter Wind trieb das unheimliche Geschrei in an- und abschwellenden Böen zu ihr herüber. Es kam nicht aus den Käfigen, sondern aus dem Gebäude. Dennoch spürte sie Bewegung in den kastenförmigen Behausungen. Es roch nach heißem, animalischem Atem. Dann und wann war ein leises Fauchen und Knurren zu hören.
Ihre Neugier trieb sie aus der Sicherheit des Gebüschs näher an die vorderen Gitter heran. Das Krummschwert, das sie aus dem Lager der Großen Horde mit nach Bagdad gebracht hatte, trug sie offen in der Rechten; es lag besser in der Hand als die Klinge des Kalifenkriegers.
Etwas krachte von innen gegen das Käfiggitter.
Sinaida prallte zurück, doch im selben Augenblick war es schon wieder verschwunden, fortgeschnellt in die Schatten.
Auch am Hofe des Khans hatte es Löwen gegeben, wenn auch keinen wie diesen hier: schneeweiß und so groß wie ein Hengst, mit einer Mähne, die wie Silber schimmerte. Auch eine seiner Pranken hatte sie gesehen. Krallen wie Dolchklingen.
Angespannt schaute sie sich um. Es musste irgendwo Wachen geben, Pfleger für die Tiere. Aber noch immer war nirgends eine Menschenseele zu sehen.
Vorsichtig stahl sie sich weiter, entlang der rechten Käfigreihe, aber in respektvollem Abstand zu den Gittern. Aus jedem Verschlag drang Knurren und Schnauben, manchmal auch nur ein leises Rascheln, wenn sich einer der mächtigen Leiber im Schlaf regte. Hier und da konnte sie Formen im Dunkeln erahnen, riesenhafte Körper, manche liegend, andere gespannt und sprungbereit, als warteten sie nur darauf, dass Sinaida achtlos genug war, eines der Gittertore zu öffnen.
Ungehindert erreichte sie das Ende der Käfigallee. Der Platz an ihrem Ende war nicht groß, bis zum Portal des Anbaus waren es nur wenige Schritte. Jetzt sah sie, dass einer der beiden Torflügel einen Spalt weit offen stand. Das Kreischen hinter den Mauern war hier so laut, dass sie ihren eigenen Atem nicht mehr hören konnte.
Blitzschnell huschte sie über den Platz, so flink, dass ein zufälliger Beobachter sie für den Schatten eines Vogels hätte halten können. Mit dem Krummschwert im Anschlag blickte sie ins Innere des Hauses.
Dahinter lag ein kurzer, fackelbeschienener Gang, der vor einer Gittertür endete.
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