Das Camp
ganze Zeit im Blick gehabt zu haben. Er nickte deutlich.
Luk griff nach dem Brief. Als er ihn diskret unter seinem Overall verschwinden ließ, sah er, dass der Umschlag verschlossen war. Haufeld hatte den Brief nicht geöffnet.
Der Ingenieur wirkte enttäuscht, als Luk ihm die Zigaretten und den Autoschlüssel brachte. »Willst du ihn nicht lesen?«
»Ja, schon. Aber wenn mich jemand sieht?«
Haufeld gab ihm den Autoschlüssel zurück. »Setz dich in den Bully. Hinten rein. An den Kartentisch. Da liegen ein Block und ein Kugelschreiber. Du kannst deiner Freundin gleich antworten, wenn du willst.«
»Und wenn jemand kommt?«
»Das lass mal meine Sorge sein, okay?«
Luk zitterten die Finger, als er den Umschlag aufriss. Wie lange war es her, dass er einen Brief geöffnet hatte? Zwei Monate? Drei? Er hatte keine Ahnung. Als ob er aus der Welt herausgefallen war.
Judiths Schrift war kaum zu entziffern. Endungen fehlten. Manchmal hatte sie das Verb oder das Subjekt weggelassen. Die ersten Zeilen musste Luk fünf- oder sechsmal lesen, bis er endlich begriff, was da stand. Judith musste den Brief in größter Hast geschrieben haben.
Sie habe sich schon gewundert, dass Luk nach dem Flug übers Watt so plötzlich verschwunden sei. Zuerst habe sie gedacht, er lasse wieder mal eine seiner Launen an ihr aus. Aber als er dann überhaupt nicht wieder aufgetaucht sei, habe sie ihren Ärger hinuntergeschluckt und ein bisschen herumgefragt, was denn passiert sei mit ihm.
Ausführlich beschrieb sie, was sie alles unternommen hatte. Bei seinen Eltern habe sie angerufen und seine Klassenlehrerin angesprochen. Sogar bei der Polizei sei sie gewesen. Aber angeblich habe niemand etwas gewusst.
Luk merkte, dass er immer genervter wurde. Er hatte gehofft, dass Judith etwas für Benjamin tun könnte. Deshalb hatte er ihr geschrieben. Aber langsam kam es ihm so vor, als hätte er ihr einen von Wladimirs schwülstigen Liebesbriefen geschickt.
Erst ganz am Schluss erwähnte sie einen Zettel, den Haufeld offenbar dem Brief beigelegt hatte. Der Ingenieur hatte
angeboten, ihr die nächsten Briefe von Luk per E-Mail zu schicken, wenn sie ihm ihre Adresse mitteilte. Das würde die Kommunikation erheblich beschleunigen.
Erst im allerletzten Absatz kam Benni vor. Ich kenn da eine Anwältin , schrieb Judith. Von meiner Arbeit bei Amnesty. Sie ist ganz heiß auf das Thema. Sie findet diese Erziehungslager unmöglich, sagt sie. Bringe doch alles nichts. Jedenfalls setzt sie Himmel und Hölle in Bewegung, um an Benjamins Akten heranzukommen.
Teile des Briefes konnte Luk gar nicht entziffern. Vielleicht hatte sich Judith beim Schreiben so beeilt, weil sie den Brief noch rechtzeitig in den Kasten werfen wollte, damit er noch am selben Tag auf den Weg kam. Oder sie hatte nur zehn Minuten, bevor die nächste Sitzung bei Greenpeace oder sonst irgendeinem Gutmenschenklub begann.
Luk war so auf den Brief konzentriert, dass er nicht mitbekam, was um ihn herum passierte. Plötzlich wurde die Seitentür des Bullys aufgerissen und krachend zurückgeschoben.
Luk zuckte hoch und sah direkt in Harleys grinsendes Gesicht. Über Harleys Schulter hinweg sah er in vielleicht 30 Meter Entfernung Pannewitz auf Haufeld einreden. Der Zugführer hatte beide Fäuste in die Seiten gestemmt. Der Vermessungsingenieur wirkte hilflos. Mit hängenden Schultern stand er da und ließ den Wortschwall über sich ergehen.
Luk war Sekunden lang wie gelähmt vor Schreck. Dann schnappte er sich Judiths Brief. Noch während er ihn zusammenknüllte, packte Harley seinen Arm und drehte ihn nach hinten.
Luk schaffte es gerade noch, den kleinen Papierball in die andere Hand zu retten. Während Harley ihm fast den Arm auskugelte, schob er sich den Brief in den Mund. Hastig kaute
er auf der trockenen Masse herum und versuchte, so viel Speichel wie möglich zu produzieren.
»Spuck das sofort aus!«
Harley ließ Luks Arm los. Seine Finger schlossen sich um Luks Hals und hinderten ihn am Schlucken.
»Mund auf!«
Luk presste die Zähne zusammen. An Kauen war nicht mehr zu denken. Harley drückte ihm mit der anderen Hand die Nase zu. Luk bekam keine Luft mehr. Widerstrebend öffnete er die Lippen.
Harley fuhr mit den Fingern in Luks Mund und klaubte das feuchte Papier heraus, das einmal Judiths Brief gewesen war.
Pannewitz empörtes Gesicht tauchte hinter Harley auf.
»Abführen!«, befahl der Zugführer.
32
Diesmal war er vorbereitet. Trotzdem packte ihn der Würgereiz schon,
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