Das Cassandra-Projekt: Roman (German Edition)
Irgendwann, als die Gruppe gerade am Fuß eines der Starttürme angelangt war, schaute der Präsident in Jerrys Richtung, und ihre Blicke trafen sich. Der Präsident lächelte. »Hallo, Jerry«, sagte er. »Wahrscheinlich haben Sie bisher alle Hände voll zu tun gehabt.«
Cunningham besaß alle physischen Merkmale eines Anführers. Er war groß, hatte breite Schultern und die Züge eines Filmstars. Er war in den Vierzigern und damit der jüngste Regierungschef seit Jack Kennedy. Selbstredend mochten ihn die Leute. In der Beliebtheitsskala stand er trotz der schweren Zeiten, die die USA durchmachten, immer noch weit oben. Und das ganze Land liebte die First Lady, Lyra, die in jüngeren Jahren eine Schönheitskönigin hätte sein können. Lyra hatte einen zurückhaltenden Sinn für Humor und war in den Augen einiger die erfolgreichste Wahlkämpferin des Wahljahres 2016.
Und dann, ohne jede Vorwarnung, war die Gelegenheit da. Der Präsident, der immer noch in Jerrys Richtung schaute, lächelte. »Was hat denn eigentlich das ganze Trara um die Mondflüge zu bedeuten, Jerry?«
Für einen Moment hörte die Welt auf, sich zu drehen. Eine warme Brise wehte vom Ozean herbei, und Jerry hörte, wie sich die Kronen der Bäume sacht wiegten. Alle Gespräche verstummten. Er sah Mary ein wenig abseits vom Präsidenten stehen, die Lippen fest zusammengepresst, den Blick unverwandt auf ihn gerichtet. Kein Lächeln. Keine Kompromisse.
»Ich weiß es nicht, Mr President«, sagte Jerry. »Ich nehme an, manche Leute lassen sich ziemlich leicht verrückt machen.«
Cunningham lächelte und zog weiter.
Jerry stand da und starrte eine Wand an. Vermied es, in Marys Richtung zu schauen.
Blöd.
Feige.
Der Empfang lief glatt. Eine Reihe ehemaliger und aktueller NASA-Leute erschienen, um dem Präsidenten Respekt zu erweisen. Viele von ihnen kannte Jerry persönlich. Sie schlenderten mit einem erwartungsvollen Lächeln auf den Lippen auf ihn zu, beschränkten sich in ihren Äußerungen darauf, wie schön es doch sei, wieder einmal im Space Center zu sein. Doch sie alle schauten ihn mit einem gewissen Funkeln in den Augen an. Er war zu einem dieser Typen geworden, die an Roswell und den dämlichen Schneemenschen glaubten.
Einer der wenigen, die ihm gegenüber die Myshko-Geschichte erwähnten, Larry Jurkiewicz, hob sich von den anderen ab, weil er Jerrys Vorgänger als Pressesprecher gewesen war. »Sie stehen ständig im Rampenlicht«, bemerkte Larry. »Da geht leicht mal was daneben. Man sagt ein falsches Wort und wird es nicht mehr los.« Er musterte ihn mit echtem Mitgefühl. »Sie müssen einfach durchhalten, Jerry. Irgendwann legt sich das wieder.«
Wann es passiert war, wusste Jerry nicht recht. Aber als der Abend vorüber war, hatte er sich mit der Tatsache abgefunden, das Thema im Gespräch mit dem Präsidenten nicht offen angesprochen zu haben. Es hätte ihm so oder so nichts gebracht. Hätte Cunningham etwas gewusst und es öffentlich machen wollen, so hätte er das längst getan. Da er aber offensichtlich nichts wusste, hätte er auch nichts zur Sache an sich beitragen können.
Am nächsten Morgen begleitete Jerry den Präsidenten und sein Gefolge zur First Presbyterian Church in Titusville. Während des Gottesdienstes saß Jerry still im Hintergrund und hörte zu, wie der Pastor seine hohen Gäste willkommen hieß, ehe er kurz über das Gebot der Nächstenliebe sprach. »Es geht nicht nur um Geld«, sagte er. Jerry erinnerte sich an Kirchenbesuche im Zuge des Wahlkampfs, bei denen die Prediger routinemäßig kaum verhohlene Botschaften für den Kandidaten zum Besten gaben. Wir müssen dafür sorgen, dass beide Seiten der Evolutionstheorie in der Schule gelehrt werden. Oder was auch immer. Aber die Predigt dieses Pastors, die auf der Direktive beruhte, man solle seinen Nächsten lieben, wies keine Anzeichen für versuchte politische Einflussnahme auf.
Als es vorbei war, riegelte der Secret Service die Kirche ab, damit der Präsident sie unbehelligt verlassen könne. Als Jerry schließlich herauskam, war das Staatsoberhaupt bereits fort. Die übrigen Gottesdienstbesucher blieben noch eine Weile, und der Pastor, Adam Tursi, stand an der Vordertür, schüttelte den Gläubigen die Hände und unterhielt sich mit ihnen. Einen Teil eines Gesprächs hörte Jerry mit an. »Ich mag ihn«, erklärte Tursi einer kleinen Gruppe Gläubiger auf den Stufen vor der Kirche. Mit seinem ungezwungenen Lächeln und dem vom Wind zerzausten grauen
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