Das Chagrinleder (German Edition)
mitleidlos opferte; um ihre Freunde zu unterhalten, spottete sie über meine Geheimnisse, meine Wünsche und meine Hoffnungen. – »Er hat eine Zukunft!« sagte Rastignac. Vielleicht ist er eines Tages imstande, grausame Rache zu nehmen; seine Begabung kommt zumindest seinem Mut gleich. Ich halte also Leute, die ihn reizen, für sehr verwegen, denn er hat ein gutes Gedächtnis ...« – »Und schreibt Memoiren«, fügte die Comtesse hinzu, der das tiefe Schweigen, welches sich plötzlich ausgebreitet hatte, zu mißfallen schien. »Memoiren einer falschen Comtesse, Madame«, versetzte Rastignac. »Um sie zu schreiben, bedarf es einer anderen Sorte Mut.« – »Ich traue ihm viel Mut zu«, erwiderte sie, »er ist mir treu.« Ich war lebhaft versucht, vor den Spöttern aufzutauchen wie Banquos Geist in Macbeth. Ich verlor eine Geliebte, aber besaß einen Freund! Jedoch flüsterte mir die Liebe mit einem Male eine jener feigen und spitzfindigen Paradoxa zu, mit denen sie all unseren Schmerz einzulullen versteht. – »Wenn Fœdora mich liebt«, dachte ich, »muß sie dann ihre Neigung nicht unter boshaften Scherzen verstecken. Wie oft schon hat das Herz den Lügen des Mundes widersprochen!« Endlich wollte mein unverschämter Rivale, der als letzter bei der Comtesse geblieben war, sich verabschieden. – »Wie? schon?« fragte sie in schmeichlerischem Ton. Ich zitterte. »Wollen Sie mir nicht noch einen Augenblick schenken? Haben Sie mir nichts mehr zu sagen? Können Sie mir nicht eines Ihrer Vergnügen opfern?« Er ging. »Ach!« rief sie und gähnte, »wie langweilig sie alle sind!« Sie zog heftig an einer Schnur, und eine Klingel ertönte. Die Comtesse trat in ihr Schlafzimmer und trällerte die Melodie »Pria che spunti«. [Fußnote: » Pria che spunti «: Arie aus der Oper »Die heimliche Ehe« (1792) von Cimarosa. 179 Gymnase : das ›Gymnase dramatique‹, ein unter der Schirmherrschaft der Duchesse de Berry 1820 gegründetes Vaudeville- und Komödientheater in Paris] Nie hatte sie jemand singen hören, und dieses Nichtsingen hatte zu absonderlichen Deutungen geführt. Man sagte, sie hätte ihrem ersten Liebhaber, der von ihrem Talent entzückt und übers Grab hinaus eifersüchtig gewesen wäre, versprochen, niemandem ein Glück zu gewähren, das er allein genossen haben wollte. Ich spannte alle Kräfte meiner Seele an, um die Klänge in mich aufzunehmen. Von Note zu Note sang sie voller, schien Fœdora lebhafter, der Reichtum ihrer Kehle entfaltete sich, und die Melodie gewann etwas Göttliches. Die Comtesse hatte eine klare, reine Stimme und etwas Harmonisches und Vibrierendes in ihrem Organ, das das Herz bewegte und wonnig berührte. Musizierende Frauen sind fast immer verliebt. Wer aber so sang wie sie, mußte sehr wohl zu lieben wissen. Die Schönheit dieser Stimme war also ein Geheimnis mehr an dieser Frau, die schon so geheimnisvoll genug war. Ich sah sie damals, wie ich dich sehe; sie schien sich selbst zu lauschen und dabei eine eigene Wollust zu empfinden wie in einem Liebesrausch. Sie ging an den Kamin, während sie das Hauptmotiv dieses Rondo zu Ende sang; aber als sie nun schwieg, veränderte sich ihr Gesichtsausdruck, ihre Züge erschlafften, und sie sah müde aus. Sie legte eine Maske ab, die Schauspielerin hatte ihre Rolle beendet. Indessen war dieses Welkwerden ihrer Schönheit nach dem kunstvollen Gesang oder infolge des anstrengenden Abends nicht ohne Reiz. – »So also ist sie in Wahrheit«, dachte ich. Sie stellte, wie um sich zu wärmen, einen Fuß auf die Bronzestange des Kaminschirms, zog ihre Handschuhe aus, legte die Armbänder ab und streifte eine goldene Kette, an der ihre mit kostbaren Steinen besetzte Riechdose hing, über den Kopf. Ich empfand unsägliches Vergnügen, ihre Bewegungen zu verfolgen, deren geschmeidige Anmut an eine Katze erinnerte, die sich in der Sonne putzt. Sie besah sich im Spiegel und sagte laut und mißvergnügt: »Ich sah heute abend nicht gut aus, mein Teint welkt erschreckend schnell. Ich sollte mich vielleicht früher schlafen legen, diesem liederlichen Leben ein Ende setzen. Aber was fällt denn Justine ein?« Sie klingelte noch einmal; die Zofe kam herbeigeeilt. Wo war ihr Zimmer? Ich weiß nicht. Sie war über eine geheime Treppe gekommen. Ich war neugierig, sie zu betrachten. Meine Dichterphantasie hatte diese unsichtbare Dienerin, eine große, hübsch gebaute Brünette, oftmals in schlimmem Verdacht gehabt. – »Madame haben geklingelt?« –
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