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Das Diamantenmädchen (German Edition)

Das Diamantenmädchen (German Edition)

Titel: Das Diamantenmädchen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ewald Arenz
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einer der Polizisten geschrien, die damals auf einmal aus dem Nebel aufgetaucht waren. »Hier wird geschossen!«
    Lastwagen waren dröhnend vom Schlossplatz heraufgekommen und Polizeiautos und dann noch eine Gruppe berittener Soldaten von einem der Freikorps. Auf der anderen Seite der Allee lagen die Spartakisten in Stellung. Lilli konnte sehen, dass bei einem der Häuser rote Fahnen aus den Fenstern hingen. Der Nebel machte alles unwirklich, aber dann hatten sie auf einmal tatsächlich angefangen zu schießen. Von einem der Lastwagen schossen sie auf das Haus, in dem die Spartakisten lagen, und von dort kam es dann zurück, überall knallte es plötzlich, und der Lärm war so schrecklich in diesem Nebel, dass Lilli das Fahrrad hatte fallen lassen und einfach losgerannt war. Und da, in der Nebenstraße hinunter zur Spree, am Lustgarten entlang, da war sie dem Mann ohne Gesicht begegnet. Es war ein kleiner Trupp Spartakisten, der ihr da mit Gewehren, Pistolen und roten Armbinden entgegenhetzte, um den Regierungstreuen in den Rücken zu fallen. Sie waren an ihr vorbeigerannt, bis auf den einen, der plötzlich stehen geblieben war und Lilli angestarrt hatte. Der Mann ohne Gesicht. Lilli hatte schon Kriegsversehrte auf den Straßen gesehen, aber dieser Mann war grauenvoll entstellt. Sie hatte ihn zuerst nur im Profil gesehen, und es war, als hätte man aus dem Gesicht etwas wegradiert; auf entsetzliche Weise hatte an dem Profil etwas nicht gestimmt. Dort, wo die Nase hätte sein sollen, war gar nichts. Es sah aus, als hätte man ein Gesicht nach innen gestülpt. Und als er sie angesehen hatte, da war sie vor Entsetzen gestolpert. Man hatte dem Mann die Nase weggeschossen und dort, zwischen Mund und Augen, war nur ein Loch, umgeben von rotem, halb verheiltem Fleisch, und der Mann sah aus wie eines der Kindheitsungeheuer, die nachts aus den dunklen Winkeln der Kinderzimmer schleichen und einen vor schrecklicher, schluchzender Angst nicht schlafen lassen, einer Angst, die man den Eltern am nächsten Morgen nie begreiflich machen konnte. Sie hatte nicht wegrennen können. Es war so wie in den Kindheitsträumen, wenn sie schließlich vor lauter Furcht zu Wilhelm ins Bett gekrochen war. Und dann war der Mann auf sie zugekommen, hatte angefangen zu grinsen, mit diesen Lippen, die so entsetzlich falsch aussahen, weil sie aus irgendeinem anderen Fleisch seines Körpers hinoperiert worden waren, hatte gegrinst, und dann hatte sie endlich wegrennen können, war gerannt und gerannt und gerannt, bis sie sich schließlich, schluchzend und keuchend vor Angst, irgendwo in einem Hauseingang versteckt hatte. Sie hatte das nie wieder vergessen, und der Mann ohne Gesicht war von da an immer wieder in ihren Träumen aufgetaucht; mit den Jahren seltener, aber es waren dann doch meistens zerstörte Morgen, an denen sie aus solchen Bildern aufwachte.
    Der Tag war ohnehin düster. Im Traum war es das Gas gewesen, im wirklichen Berlin war sie mit der Straßenbahn durch einen diesigen Morgen zum Ullsteinhaus in die Redaktion gefahren. Ihre Stimmung wurde auch dort nicht besser. Es war wohl einer dieser typischen Herbstmorgen, an denen alle schon den Winter ahnen und schlechter Laune sind, weil es nicht richtig hell wird. Jedenfalls dachte sie das, bis sie die Sekretärinnen sah, die mit ihren Strohmatten unter dem Arm zum Paternoster gingen, um auf der Dachterrasse die gemeinsame Morgengymnastik zu veranstalten.
    »Ist das Ihr Ernst, Fräulein Katz?«, fragte Lilli mit müdem Spott, als die Sekretärin aus ihrer Abteilung an ihr vorbeieilte. »Draußen ist düsterster Herbst. Diesig, kalt …« Sie schauderte schon beim bloßen Gedanken ein bisschen. Fräulein Katz, die kaum älter als zweiundzwanzig war, lachte nur.
    »Gerade das richtige Wetter!«, sagte sie. »Kühl, frisch – wollen Sie nicht mitkommen? Danach sind Sie wie neugeboren.«
    »Nee danke«, sagte Lilli, »mir reicht diese Inkarnation. Gehen Sie mal turnen.«
    Fräulein Katz lachte und lief den anderen hinterher. Lilli war einmal mit nach oben gegangen, aber auch nur, um darüber zu berichten, wie der Sport nach dem Krieg auf einmal überall Einzug gehalten hatte, wie die Frauensportclubs aus dem Boden schossen, wie jede bessere Firma Freiluftgymnastik anbot, manchmal sogar mit Musik aus dem Grammophon untermalt; wie auf einmal überall dauergelaufen, Tennis gespielt, Bogen geschossen wurde. Sie selbst sah sich ja nicht als unsportliche Frau, aber morgendliches Turnen schien für

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